Freitag, 21. Dezember 2012

Der griechische Traum von Evelyn Sperber-Hummel



Renate stellte das Geschirr in den Schrank, sie wischte den Küchentisch ab und machte das Licht aus. Es war 22 Uhr. Ihr Mann hatte sich schon schlafen gelegt. Er musste morgen früh raus. Tagschicht. Sie ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Auf einem Kanal lief ein Krimi, auf einem anderen redeten irgendwelche Typen über die psychische Verwilderung der heutigen Jugend, ein dritter präsentierte einen seichten Liebesfilm. Renate zappte sich durch die verschiedenen Programme. Nichts zog sie an, keine Geschichte lockte sie, in das Geschehen einzutauchen. Am Weihnachtsbaum brannten die künstlichen Lichter.
Der Heilige Abend war so verlaufen wie in all den Jahren zuvor. Justus hatte ihr eine elektrische Kaffeemütze geschenkt, sehr praktisch. Auch die Kartoffelschälmaschine konnte sie gut gebrauchen.  Sie hatte ihm einen warmen Pullover gestrickt. Den wollte er morgen gleich anziehen. Der Winter war kalt. Sie hatten im warmen Zimmer zusammengesessen wie jedes Jahr zu Weihnachten. Harmonisch, friedlich. Früher hatte sie davon geträumt, einmal nach Griechenland zu fahren, Urlaub zu machen, die alten Stätten der europäischen Kultur zu besuchen. Justus war mehr für die heimischen Berge. „Irgendwann fahren wir hin“, hatte er sie immer vertröstet, jetzt sagte er es nicht mehr. Renates Traum war mit den Jahren still geworden. 
Justus schlief, sie spielte mit der Fernbedienung. Der Krimi war zu Ende, der Liebesfilm lag in den letzten Zügen, ein Happy-End zeichnete sich ab. Diskussionen, erhebende Worte zum Weihnachtsfest, Musik. Renate klickte sich durch die Programme. Nichts zog sie an. Keine Geschichte lockte.
Und dann tauchte die Akropolis auf. Athen, Hellas, Sonne, Wärme. Renate lehnte sich im Sessel zurück und fühlte, wie die Bilder nach ihr griffen, sie berührten, hineinzogen in die griechische Landschaft, auf die ägäischen Inseln, an die ionischen Strände, auf den Peloponnes. .
Sie schritt durch Olivenhaine, saß auf sonnengewärmten Steinen an der Akropolis, schlenderte durch das baumlose Epirus, ließ den delphischen Zauber auf sich wirken, genoss das mediterrane milde Klima im Süden der Insel, fuhr mit dem Schiff zu den ionischen und ägäischen Inseln, besuchte Rhodos und Kreta, tauchte ein in die minoische Kultur, in die Welt der Antike und ließ sich auffangen vom modernen Griechenland. Was sie bisher nur aus Büchern kannte, erlebte sie jetzt hautnah. Sie saß draußen unter Laubbäumen mit fröhlichen Menschen zusammen, sie trank griechischen Wein, lauschte griechischer Musik, der griechischen Sprache. Ein junger Mann mit dunklen Locken holte sie zum Tanz. Er schenkte ihr eine Hibiskusblüte. Man stellte eine Schale mit Oliven vor sie hin, eine Flasche Wein. In der Nacht lag sie im Bett und ihre Gedanken wanderten nach Hause, zu Justus. Und am nächsten Tag gab es neue Erlebnisse, neue Bilder, neue Menschen. Auch in Griechenland war Winter, auf den Bergspitzen lag Schnee, doch in den Niederungen herrschten milde Temperaturen. Drei Wochen Urlaub in Griechenland. Ein Traum wurde wahr. Renate wiegte sich zu den Klängen griechischer Musik. Sie kostete Demestica und schwarze Oliven.
„Sag mal, warst du überhaupt nicht im Bett?“
Sie schreckte hoch. Eine Hibiscusblüte fiel auf den Boden.
„Bist im Sessel eingeschlafen.“ Justus stellte den Fernseher aus.
„Ich war in Griechenland“, sagte Renate.
„Dein alter Traum.“ Justus nahm sie in die Arme. „Irgendwann fahren wir hin“, sagte er. Seit Jahren das erste Mal wieder. „Möchtest du einen Kaffee?“
„Ne, parakaló“, sagte Renate.
„Wie?“
„Ne, parakaló“, wiederholte sie.
„Was redest du denn da? Hast du Fieber? Wäre ja kein Wunder, die ganze Nacht hier im kalten Zimmer sitzen. Die Heizung schaltet sich doch um 22 Uhr aus.“ Er legte seine Hand auf ihre Stirn. „Also, Fieber scheinst du nicht zu haben.“
„Ja, bitte“, sagte Renate.
„Wie bitte?“
„Ne, parakaló -  ja, bitte. Ich möchte einen Kaffee.“ Sie stand auf, bückte sich, nahm die Hibiskusblüte vom Teppich. Auf dem Tisch stand eine Schale mit schwarzen Oliven. Daneben eine Flasche Demestica rot. Sie ging in die Küche und hatte das Gefühl, durch Olivenhaine zu schreiten. „Ti óra ìne?“, fragte sie und fügte hinzu: „Wie spät ist es?“
„Viertel vor Fünf.“ Justus stellte die Kaffeemaschine an. Er setzte sich hin. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit griechischem Bauernsalat. „Wann hast du den denn zubereitet?“, fragte er.
„I Choriátki – der Bauernsalat“, sagte Renate. „Ich habe ihn aus Griechenland mitgebracht. Pinás? Hast du Hunger?“
„Nicht so sehr.“ Justus aß trotzdem eine große Portion Salat.
„Pináo san ton liko, ich habe großen Hunger“, sagte Renate und füllte ihren Teller. .
„Wo hast du Griechisch gelernt?“
„In Griechenland.“
Er lachte. „Das musst du mir genauer erklären. Heute Abend, wenn ich von der Arbeit komme.
„Póte tha epistrépsis sto spíti? Wann kommst du nach Hause?“
„Wie immer.“
Pünktlich wie immer kam er. „So, und jetzt erkläre mir mal, was heute Nacht passiert ist“, sagte er.
„Ich war in Griechenland. Das sagte ich doch schon. Was soll ich dazu erklären?“ Sie legte ihre Hand auf seine Hand. „Es ist ein Wunder, ich weiß. Wunder kann man nicht erklären. Könnte man sie erklären, dann wären es keine Wunder mehr.“
„Ja“, sagte er und holte seine Tasche aus dem Flur, nahm einen Umschlag heraus und legte ihn auf den Tisch. „Da, noch ein Weihnachtswunder, aber eines, was man erklären kann. Du hast mich überzeugt. Im März fliegen wir zusammen nach Griechenland.“
„Efcharistó polí!“, sagte sie und drückte ihn. „Vielen Dank!“

© Evelyn Sperber-Hummel