Donnerstag, 6. Dezember 2012

Nikolausabend von Sabine Ludwigs




Am Abend des fünften Dezember hat der Nikolaus in seinem Waldhaus furchtbar schlechte Laune! Zwar packt er wie jedes Jahr Spielzeug, Süßigkeiten und allerlei weihnachtlichen Krimskrams in seinen Gabensack. Doch anders als sonst brummelt er dabei ständig in seinen Bart und zieht ein finsteres Gesicht.
Das fällt sogar seinem immer mürrischen Freund und Gehilfen Ruprecht auf. „Was ist los?“, fragt er den Nikolaus. „Ich habe noch nie erlebt, dass du so miesepetrig bist. In all den Jahrhunderten warst du stets vergnügt und munter. So vergnügt, dass es mir manchmal sogar auf die Nerven fiel.“
Zuerst antwortet der Nikolaus nicht. Missgelaunt schnürt er den vollgepackten Sack zu. Erst als er sieht, wie Ruprecht eine Rute aus Reisig hervorholt, fängt er an zu reden. „Ruprecht“, grollt er. „Leg die Rute weg! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass wir dieses Ding nicht brauchen!“
„Du weißt genau, welchen Rangen wir heute noch gegenüberstehen werden!“, entgegnet Ruprecht ungerührt. „Es ist nun einmal eine Tatsache, dass es gemeine Kinder gibt, die andere ärgern, sie verprügeln, die ständig stänkern und …“
„Trotzdem“, unterbricht der Nikolaus ihn mitten im Satz, „es wäre mir lieber, dieses verdammte Ding bliebe hier! Die Zeiten haben sich geändert.“
Jetzt ist Ruprecht erbost. Sein dunkler Bart sträubt sich regelrecht. „Verdammtes Ding?“, brüllt er. „Das ist lediglich die gute, alte Rute. Eigentlich zu harmlos für so manches Früchtchen! Wenn ich da nur an diesen fiesen Kevin Krummschnabel denke! Aber mal ehrlich, die Rute ist doch bloß zur Abschreckung da. Ihr Anblick hat jedenfalls noch keinem geschadet. Im Gegenteil!“
„Ha! Wer‘s glaubt“, überschreit der Nikolaus Ruprecht. Und plötzlich stehen sie Knollennase an Knollennase voreinander und funkeln sich an, als wären sie zornige Jungen: der dicke Nikolaus im roten Gewand mit seinem weißen Wallebart und der stämmige Ruprecht im nussbraunen Mantel mit seinem struppigen Schwarzbart. Ihr Schnaufen klingt, als würde Luft aus einem Schwimmreifen entweichen.
Mit einem Mal muss Ruprecht lachen. Ausgerechnet der ruppige Ruprecht! „Komm schon, Nikolaus“, meint er versöhnlich. „Ich nehme ja nur die kleine Rute mit. - Aber willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist, alter Knabe?“
Der Nikolaus druckst herum. „Na ja, es ist so … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … aber … aber ich hätte … auch so schrecklich gern …“ Er verstummt.
„Jaha?“ Ruprecht zieht fragend seine buschigen Augenbrauen in die Höhe. „Immer raus mit der Sprache! Was hättest du gern?“
„Einen gefüllten Stiefel!“, platzt der Nikolaus heraus. „Jawohl! Randvoll mit Leckereien und ein oder zwei kleinen Überraschungen.“
Stille. Nur der wilde Wind rumort im Windfang vom Kamin.
Dann reißt Ruprecht den Mund weit auf. Er posaunt ein lang gezogenes „Ooooohhhhhh“ heraus. Danach prustet er los, dass ihm die Tränen über das Gesicht laufen und anschließend im Bart versickern. Ruprecht lacht und lacht, bis er am Ende röhrt er wie ein alter Hirsch. „Du?“, japst er zwischen zwei Lachsalven mit hochrotem Gesicht. „Du, der leibhaftige Nikolaus, willst einen Nikolausstiefel haben?“ Schon biegt er sich wieder!
„Was ist daran so lustig?“, brummt der Nikolaus. „Hör auf zu lachen und hilf mir lieber, den Schlitten zu beladen.“
Also tut Ruprecht, was der Nikolaus ihm aufgetragen hat. Zusammen stapfen sie in den Stall, wo sie den Schlitten bepacken. Ruprecht spannt den munteren Esel Benjamin davor und los geht es, durch eine windige Winternacht und einen finsteren Wald bis in die Stadt hinein. Vornweg Ruprecht mit einer hellen Laterne, die im Wind schaukelt, und dahinter der immer noch verdrossene Nikolaus, der den Esel Benjamin am Halfter führt.
In der Stadt füllen sie unzählige Schuhe und Stiefel der noch schlafenden Kinder, damit die sich am Nikolausmorgen über ihre Gaben freuen können.
Wieder andere Mädchen und Jungen besuchen sie höchstpersönlich am Nikolaustag. Meistens lobt der Nikolaus die Kinder, doch manchmal tadelt er auch welche, vor denen Ruprecht dann mit grimmigem Blick drohend mit der Rute herumfuchtelt – was dem Nikolaus jedes Mal ein tiefes Seufzen entlockt.
Tief in der Nacht ist der Schlitten beinahe leer, worüber sich besonders der Esel Benjamin freut. „Wir müssen nur noch Mirjana besuchen“, erklärt der Nikolaus dem Esel. Er krault ihn aufmunternd zwischen den langen, grauen Eselsohren. „Es ist spät geworden. Bestimmt wird sie schon schlafen.“
Und wirklich, als sie am Ende der Straße an Mirjanas Haus ankommen, sind sämtliche Fenster dunkel. Vor der niedrigen Haustür stehen zwei sauber geputzte Winterstiefel, in die sie allerhand Süßigkeiten und das kleine Tanzpüppchen stecken, das Mirjana sich wünscht.
Gerade als sie sich davonschleichen wollen, entdeckt Ruprecht es. „Du“, sagt er zum Nikolaus und zupft an dessen Mantel. „Schau mal!“
Da stehen die knallgelben Gummistiefel von Mirjana, die sie noch im letzten Jahr mit Süßigkeiten gefüllt haben - und die ihr wohl mittlerweile nicht mehr passen. „Für den lieben Nikolaus“ steht auf einem Zettel, der an dem einen Stiefel klebt. „Für den braven Ruprecht“ auf einem Zettel an dem anderen Stiefel.
„Das gibt’s doch gar nicht!“, ruft der Nikolaus aufgeregt aus. „Ein Stiefel! Für mich!“
„Und einer für mich!“, überschreit Ruprecht ihn.
Nikolaus findet in seinem Stiefel eine Zeichnung von sich selbst, einen langen roten Schal und jede Menge selbstgebackene Zimtsterne und Vanillekipferl.
In Ruprechts Stiefel stecken ein selbstgemaltes Bild von Ruprecht, ein schokobrauner Schal sowie Lebkuchen und Nusstaler.
Sie wickeln sich die Schals um den Hals und machen sich zufrieden mampfend auf den Heimweg. Unterwegs tauschen sie Zimtsterne gegen Nussplätzchen und Lebkuchen gegen Vanillekipferl. Auch der Esel bekommt das eine oder andere Weihnachtsplätzchen aus den gelben Stiefeln zu knabbern.
Weder Nikolaus noch Ruprecht spüren den Wind, der ihnen um die Ohren pfeift. Nachdem sie am Waldhaus angekommen sind und Benjamin in seinen Stall gebracht haben, machen sie es sich mit den letzten Plätzchen vor dem prasselnden Kaminfeuer gemütlich.
„Das war der denkwürdigste Nikolaustag, an den ich mich erinnern kann“, sagt Ruprecht mit vollem Mund, wobei er die von Mirjana gemalten Bilder betrachtet.
Und der Nikolaus? Der sagt gar nichts. Er lächelt nur stillvergnügt in seinen weißen, über und über mit Krümeln bedeckten Bart.


 © Sabine Ludwigs



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