Donnerstag, 20. Dezember 2012

Rudolf streikt von Sigrid Wohlgemuth


Im Land am Nordstern freuten sich die jungen Bewohner,
die älteren waren eher betrübt. Denn der Weihnachtsmann
hatte bekannt gegeben, dass sein ältester Sohn seine
Nachfolge antreten würde.
Für alle kam die Entscheidung überraschend, darum bat
der Dorfrat um eine Zusammenkunft. Die jungen Mitbewohner
feierten in der Zwischenzeit bereits den Nachfolger.
»Weihnachtsmann, wir, die Ältesten aus dem Dorf möchten
wissen, warum du so kurzfristig vor dem Fest deinen Rücktritt
angekündigt hast«, sprach Theodor, der Vorsitzende.
»Es ist an der Zeit, dass mein Sohn die Bescherung am
Heiligen Abend übernimmt. Meine Knochen vertragen die
kühle Zugluft auf dem Weg zur Erde nicht mehr. Im
Vorjahr hatte ich noch Wochen danach damit zu kämpfen.
Ich möchte in die Sonne.«
»Du möchtest was?«, rief der Vorredner. Die anderen
Mitglieder sahen einander reihum an und schüttelten dabei
ungläubig die Köpfe.
»Meine Frau packt gerade die Koffer, es geht dorthin, wo
um diese Jahreszeit Sommer ist.«
»Aber Claus, alter Freund«, versuchte es Theodor nun
auf diesem Wege. »Du kannst das Weihnachtsland, so kurz
vor der Christnacht, doch nicht einfach im Stich lassen.
»Mein Sohn wird mich redlich vertreten. Schließlich ist
er seit Jahren auf diesen Tag vorbereitet worden.«
»Das geht nicht so einfach!« Jetzt sprang der Vorsitzende
zornig vom Stuhl auf.
»Setz dich wieder und beruhige dich«, bat der Weihnachtsmann
mit seiner tiefen Stimme.
»Ich kann nicht ruhig bleiben, wenn ich sehe, wie
gelassen du mit der Situation umgehst.«
»Es war doch nur eine Frage der Zeit, wann mein Sohn
die Nachfolge antritt. Er ist gut ausgebildet, hat den
Sommer über gemeinsam mit mir und den Rentieren geübt.
Redlich Krafttraining absolviert, damit er all die Pakete
schleppen kann und er war auf Diät, damit er nicht im
Kamin stecken bleibt, so wie ich damals ...« Er strich sich
über den dicken Bauch.
»Du hast nur ein einziges Mal versucht durch den Kamin
ins Haus zu gelangen, du bist meistens über die Terrasse
hinein«, gab Theodor von sich.
»Ho ho ho! Einmal war einmal zu viel.« Der Weihnachtsmann
lachte, alle außer Theodor schlossen sich seiner
Heiterkeit an.
»Mir ist nicht zum Lachen.«
Sein langjähriger Gefährte schritt auf ihn zu und legte
ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Vertraue mir!
Mein Sohn ist ein würdiger Nachfolger.«
»Aber noch nicht in diesem Jahr! Ich beantrage eine
Abstimmung«, antwortete der Vorsitzende und blickte in
die Runde der am Tisch Anwesenden.
»Nun gut, dann stimmt ab. Ich möchte jedoch eines zu
bedenken geben. Auch mir, dem in Amt und Würden weiß
gewordenen Geschenkeüberbringer steht eine Altersruhezeit
zu. Und ich bin der Meinung, ich habe diese Aufgabe
schon länger ausgeübt, als je einer meiner Amtsvorgänger.
Schaut im historischen Buch des Weihnachtslandes nach,
dort steht es geschrieben. Ich verlasse nun den Raum,
damit ihr unter euch zu einer Entscheidung kommen
könnt. Teilt sie mir dann umgehend mit.«
»Aber so einfach ist das nicht«, brachte Theodor als
Einwand hervor, doch da war der Weihnachtsmann schon
längst aus dem Raum.
»Das Votum ist ihnen sicherlich schwer gefallen. Doch
sie haben richtig entschieden«, meinte der Weihnachts159
mann, legte ein Handtuch auf die Sonnenliege und streckte
sich darauf aus. Ein Kellner kam und stellte einen
Fruchtsaft, der in einer Kokosnussschale serviert wurde,
vor ihm ab.
»Ich sage dir, meine liebe Eleonora, es war die richtige
Entscheidung, unserem Sohn die Verantwortung zu übergeben.
Er ist alt genug und hat schon lange darauf
gewartet.«
Die Angesprochene hielt sich die Hand vor die Stirn,
weil die Sonne sie blendete. »Bist du dir da so sicher?«
»Hast du Zweifel?« Erstaunt setzte er sich auf.
»Es bereitet ihm mehr Freude in der Werkstatt Spielsachen
zu kreieren. Immer wieder sprudeln neue Ideen aus
ihm heraus. Er hat eine kreative Ader«, gab Eleonora zu
bedenken.
»Nun gut, aber dafür kann er trotzdem am Heiligen
Abend auf die Reise zur Erde gehen.«
»Es ist ja nicht nur diese eine Nacht, schließlich gehört
die ganzjährige Verwaltung des Weihnachtslandes ebenfalls
zum Weihnachtsmanndasein. Er hat mir einmal
anvertraut, dass er es nur dir zuliebe machen würde.«
»Was?«
»Dein Nachfolger zu werden.«
»Und wieso hat er niemals mit mir darüber gesprochen?«
Seine Frau zuckte mit den Schultern.
»Er wird doch keine Angst vor seinem eigenen Vater
haben, oder bin ich so streng?«
»Nein, aber ein wenig zu sehr traditionsgebunden.«
»Bin ich nicht.«
»Doch«, widersprach Eleonora. »Du möchtest unbedingt,
dass dein ältester Sohn deinen Platz einnimmt, dabei ist
unser jüngster viel besser dafür geeignet.«
»Seit Jahrhunderten tritt der Erstgeborene in die
Fußstapfen des Weihnachtsmannes.«
»Es wäre an der Zeit, dies zu ändern.«

(...)


Leseprobe aus "Bis am Baum die Lichter brennen"