Montag, 17. Dezember 2012

Spekulatia Weihnachtsfee von Sabine Ludwigs




 
Der Heiligabend mit seiner Bescherung ist ebenso vorbei wie der erste Feiertag, an dem sich alle Familienmitglieder Jahr für Jahr im Restaurant „Beim fetten Jakob“ zum Weihnachtsschmaus treffen.
Es ist der 26. Dezember. Carlotta sitzt mit ihren Eltern im Wohnzimmer und betrachtet den Tannenbaum in seinem weihnachtlichen Lichterschein. Der Baum reicht bei den Eberts immer bis zur Decke und steht mitten im Raum. Und genau genommen sitzt nur Carlotta. Die Eltern liegen auf der Couch. Sie haben sich lang hingestreckt und stöhnen, dass sie über die Feiertage viel zu viel gegessen haben und eigentlich ein bisschen Bewegung bräuchten. Doch natürlich rühren sie sich nicht vom Fleck.
Kennt man ja, denkt Carlotta und knabbert genüsslich an ihrem Spekulatius herum. So sind Erwachsene eben.
Nachdem sie drei oder vier Spekulatius vertilgt hat, steht sie auf und trollt sich in ihr Zimmer. Hier schlüpft sie in das Kostüm, das sie vom Christkind bekommen hat: ein wunderschönes Weihnachtsfeenkostüm. Es hat einen Tüllrock aus hauchdünnen roten und grünen Schleierstreifen und ein dunkelgrünes Samtoberteil mit roten Ärmeln, das über und über mit Silberstickereien verziert ist. Dazu gehören die schimmernden, durchsichtigen Feenflügel, ein Stirnband aus Funkelsteinchen und natürlich der Zauberstaub mit dem Glitzerstern an der Spitze. – Schon ist sie nicht mehr Carlotta Ebert aus dem Wiesenweg, sondern Spekulatia, die Weihnachtsfee aus dem Weihnachtswunderland. Und die hat große Lust, Carlottas Eltern die dringend nötige Bewegung zu verschaffen!
Dazu braucht sie allerdings einen magischen Spruch, das ist ja wohl klar! Etwas Machtvolles wie Simsalabim, Hokuspokus, Abrakadabra oder Mutabor. Nur noch viel, viel besser. Ein Zauberwort, das den Stern an der Spitze des Stabes zum Zauberfunkensprühen bringt.
So was wie … Hoddeldinot. Ja, genau! Spekulatia hält den Zauberstab in die Höhe, dabei ruft sie laut „Hoddeldinot!“ und – ob man es glaubt oder nicht – der Stern an der Spitze sprüht Funken wie eine Wunderkerze.
Spekulatia kichert. Sie tippelt ins Wohnzimmer, wo sie Mama mit dem Sternenzauberstab an der Stirn berührt. Dabei ruft sie: „Hoddeldinot – Tanz um den Weihnachtsbaum!“
Tatsächlich springt Mama auf die Beine! Sie singt übermütig und laut „O Tannenbaum“ und tanzt dabei vergnügt um den Christbaum herum. Das gleiche tut Papa, nachdem Spekulatia Weihnachtsfee auch ihn verzaubert hat.
Sie tanzen gerade zu dritt wie toll ihren Weihnachtsreigen, wobei sie lachen und aus vollem Halse singen, da läutet es an der Tür.
Als Spekulatia öffnet, stehen der Miesepeter Herr Wagner und seine Frau, die in der Etage unter ihnen wohnen, auf der Matte. Sie beschweren sich über den Krach an Weihnachten. Als ob Weihnachtslieder singen, lachen und tanzen Krach wäre!
Aber die Wagners, denkt Spekulatia aufgebracht, die haben ja immerzu was zu meckern. Weihnachten hin oder her. Die scheinen an gar nichts Spaß zu haben und finden immer ein Haar in der Suppe. Das muss anders werden!
Schwups nimmt sie ihren Zauberstaub. Nacheinander berührt sie Herrn Wagner und Frau Wagner an der Stirn und sagt dabei: „Hoddeldinot – Tanz um den Weihnachtsbaum!“ Funken sprühen und schon tanzen auch Herr und Frau Wagner freudig trällernd um den Tannenbaum im Wohnzimmer.
Es läutet noch einige Male an der Tür an diesem Nachmittag. Irgendwann sind sämtliche Möbel zur Seite geschoben, damit all die Leute, die Weihnachtslieder singen, sich an den Händen halten und um den Tannenbaum tanzen, genug Platz haben.
Da sind außer der Weihnachtsfee Spekulatia-Carlotta noch Mama, Papa, Herr und Frau Wagner, der dürre Herr Grimm aus dem Dachgeschoss und die dicke Gerlinde Griese, die neben ihm wohnt. Die Geschwister Anneke, Laurits und Leif mit ihren Eltern Olaf und Anna. Die Witwe Seidel und ihr uralter Bruder, der zwar nicht mehr tanzen kann, aber wunderbar Geige spielt. Zwei Polizisten, die jemand herbeigerufen hat, sind auch mit von der Partie. Außerdem tollt der Dackel Waldemar, der Gerlinde Griese gehört, kläffend im Kreis. Sogar der Wind, der durch das auf Kippe gestellte Fenster weht, wirbelt mit den ausgelassenen Menschen herum.
Es ist ein fröhlicher, lauter und bunter Abend! Der schönste zweite Weihnachtstag, den sie je erlebt haben – darin sind sich alle einig, als sie sich endlich voneinander verabschieden. „Schlaft gut!“, rufen sich die Leute mit rosigen Gesichtern und leuchtenden Augen zu. „Bis zum nächsten Jahr beim Tanz um den Weihnachtsbaum.“
„Genau“, murmelt Spekulatia Weihnachtsfee und gähnt ein ganz und gar nicht feenhaftes Drachengähnen.
Bald ist es still im Haus in der Wiesenstraße. Die Polizisten sind in ihrem Polizeiauto davongefahren. Der Dackel Waldemar schnarcht in seinem Körbchen. Die übrigen Hausbewohner schlafen mit einem Lächeln auf den Lippen. In ihren Träumen fassen sie einander an den Händen und tanzen – Hoddeldinot! - noch einmal singend um den Weihnachtsbaum.
Tja, und damit ist das Weihnachtsfest auf Erden vorbei! Wenigstens in diesem Jahr.


 © Sabine Ludwigs


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