Samstag, 15. Dezember 2012

Unsre lieben Eltern sorgen ... von Eva Markert



„Kannst du mich nicht verstehen, Yvonne?“
„Kannst du mich nicht verstehen?“
Wieder einmal ging Yvonne ihr letztes Streitgespräch mit Michael durch den Kopf. Es war ein Wortwechsel gewesen, wie sie ihn oft geführt hatten.
„Dass du nicht bis in alle Ewigkeit zu Hause sitzen willst, ist nachvollziehbar“, hatte ihr Mann eingeräumt. „Aber es muss doch nicht sofort sein!“
„Michael, ich bitte dich! Ich bin Ende dreißig. Wenn ich jetzt nicht zur Zeitung zurückgehe, wird das nie mehr was.“
„Ich finde, die Jungs sind noch zu klein ...“
„Zu klein? Sie gehen beide zur Schule. Und die hat gerade auf Ganztagsbetrieb umgestellt. Die zwei sind erst gegen fünf zurück.“
„Das reicht nicht. Als Reporterin weißt du nie, wann du nach Hause kommst.“
„Lukas und Jonas könnten nach der Schule zu deiner Mutter gehen. Die hätte bestimmt nichts dagegen.“
„Na hör mal!“ In solchen Momenten konnten Michaels Augen richtig zornig blitzen. „Wir haben schließlich keine Kinder bekommen, um sie dauernd anderen Leuten zu überlassen!“
Jaja, dieses Argument kannte sie zur Genüge. „Du hast gut reden! Morgens gehst du in deine Firma und kommst erst abends zurück. Du bist sowieso nur ein Feierabend- und Wochenend-Vater. Aber von mir verlangst du, Ganztags-Mutter zu sein, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr.“
Michael holte ein paar Mal tief Luft, dann schwand der Unmut aus seinem Gesicht. „Da hast du nicht ganz Unrecht“, gab er zu.
„Mit anderen Worten: Du bist einverstanden?“
„Komm mal her, du“, sagte er leise. Er zog sie an sich, küsste ihr Ohrläppchen. „Weißt du nicht mehr, was wir uns am Anfang vorgenommen haben?“
Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen.
Erschrocken hielt Michael sie ein Stück von sich weg. „Was hast du, Yvi?“
„Nichts, gar nichts“, schniefte sie und machte sich von ihm los. „Ich dachte bloß: Als wir früher von einem Stall voll Kindern träumten, hatten wir noch keine Ahnung, was das bedeutet. Aber heute, nach all unseren Erfahrungen, musst selbst du einsehen, dass zwei Kinder genug sind.“
Es war wirklich nicht einfach gewesen mit den beiden, trotz aller Freude, die sie ihnen auch gemacht hatten.
Da war der sechsjährige Jonas – blass, appetitlos, häufig krank. Mit Schrecken dachte Yvonne an die Nacht zurück, in der sie mit Höchstgeschwindigkeit zur Kinderklinik gerast waren, weil er seinen ersten Kruppanfall hatte. Danach hatten sie so manche Nacht wach gelegen und beunruhigt auf die Geräusche aus dem Kinderzimmer gelauscht. Bellender Husten? Pfeifende Atemgeräusche? Zwar schwand mit zunehmendem Alter diese Gefahr, doch Jonas‘ schwächliche Konstitution blieb.
Sein achtjähriger Bruder Lukas war das genaue Gegenteil: stämmig, robust, auch im Umgang mit anderen. Bereits im Kindergarten hatte er sich häufig mit anderen geprügelt, und in der Schule schüttelten die Lehrerinnen hin und wieder sorgenvoll die Köpfe über sein aggressives Verhalten. Auch konnte er nicht gut zuhören und keine Minute still sitzen.
Michael belasteten solche Dinge natürlich genauso wie sie. „Trotzdem“, sagte er, „ich hätte zu gern noch eine Tochter ... So ein süßes, kleines Mädchen, das würde unsere Familie komplett machen.“
„Michael! Wir haben keinen Einfluss darauf, ob es ein Mädchen wird!“
Er setzte sein jungenhaftes Grinsen auf, das sie so sehr mochte. „Wir könnten es zumindest versuchen.“
„Kommt nicht in Frage! Ich will keinesfalls noch mal von vorn anfangen mit Windeln, Fläschchen, Babygeschrei und schlaflosen Nächten. Und der Gedanke an eine Schwangerschaft erfüllt mich mit Grausen: die Übelkeit in den ersten Monaten, diese Dünnhäutigkeit und ewige Heulerei wegen nichts und wieder nichts, die Beschwerlichkeit am Ende ...“
„Lass uns ein anderes Mal weiterreden.“ Das war ein typischer Satz, den Michael gern verwendete, wenn es Unstimmigkeiten gab. Auf diese Weise hatte er auch versucht, ihre letzte Auseinandersetzung zu beenden.
Aber Yvonnes Entschluss stand fest. „Du kannst darüber reden, bis du schwarz wirst“, entgegnete sie. „An meiner Einstellung ändert das nichts.“
Wenn sie jetzt darüber nachdachte, kam es ihr so vor, als ob die Wortgefechte von Mal zu Mal erbitterter geworden wären. Yvonnes anfängliche Gereiztheit hatte sich zu dumpfem Groll gesteigert, dann zu Ärger und schließlich zu rotglühender Wut. „Du denkst nur an dich!“, hatte sie ihn bei ihrem letzten Streit angeschrien. „Ich soll zu Hause versauern, ein Kind nach dem andern kriegen und dich bedienen, während du dir einen schönen Lenz machst. Ohne mich! Wir leben schließlich nicht mehr im 19. Jahrhundert!“
Traurig schaute er sie an. „Ich wusste gar nicht, dass du so über mich denkst.“
„Das tue ich auch nicht“, hätte sie sofort klarstellen müssen, denn in diesem Punkt hatte sie ihm bitter Unrecht getan. Michael führte sich nie wie ein Macho auf, sondern er unterstützte sie, wo er nur konnte, und kümmerte sich liebevoll um seine Söhne, trotz der anstrengenden beruflichen Tätigkeit in seiner Firma, wo er eine Führungsposition innehatte. „Du bist ein guter Ehemann und Vater.“ Das hätte sie sagen sollen. Stattdessen hatte sie geschwiegen, stumm in ihrem Zorn. Oh, wie sehr bereute sie nun, dass sie ihn derart gekränkt hatte!
In den darauffolgenden Tagen hatten Michael und sie dieses Thema gemieden, zum einen, weil eine Einigung vorerst unmöglich schien, und zum anderen, weil die Adventszeit begann und sie keine schlechte Stimmung verbreiten wollten. Yvonne war dankbar für diese Atempause, die es ihr erlaubte, ihre Zukunft erneut in aller Ruhe zu überdenken.
„Ach, warum habe ich ihm nicht gesagt, dass es mir leidtut?“, fragte sie sich nun zum soundsovielten Male. „Ich hätte noch einige Tage Zeit dazu gehabt.“ Aber sie war zu stolz gewesen – nein, zu verbohrt.
Das Klingeln an der Haustür ließ sie hochschrecken. Viertel vor fünf, die Kinder kamen nach Hause. Sie ging in den Flur, um sie zu empfangen.
„Mama!“, schrie der Kleine und warf seinen Tornister unter die Garderobe. „Wir haben heute ein Weihnachtslied gelernt. Er stand kerzengerade, warf den Kopf nach hinten und sang aus voller Kehle:
„Morgen, Kinder, wi-hird‘s wa-has geben,
morge-hen werden wir uns freu‘n!
Welch ein Jubel, welch ein Leben
wird i-hin unsrem Hause sein!
Einmal werden wir noch wach,
heißa, dann ist Wa-hei-na-hachts-tag!“
„Quatsch!“, brüllte Lukas dazwischen. „Wir werden noch zweimal wach, du Depp.“
„Jubel, Freude, Leben“, dachte Yvonne bitter. „Davon werde ich wohl kaum etwas verspüren. Das Einzige, worauf ich hoffen kann, ist, dass die Kinder es nicht so sehr merken.“
Jonas ließ sich durch den Einwand seines Bruders nicht beirren. Lauthals sang er weiter:
„Wie wird dann die Stu-hu-be-he glänzen
von de-her großen Lichterzahl,
schöner als bei fro-ho-hohen Tänzen
ein ge-he-putzter Kronensaal.
Wisst ihr noch wie vor‘ges Jahr,
es am Weihnachtsa-ha-be-hend war?“
Oh ja, Yvonne erinnerte sich noch genau, wie es voriges Jahr am Weihnachtsabend war. Lächelnd hatten Michael und sie zugeschaut, wie die Kinder ihre Geschenke auspackten. Michael hatte den Arm um sie gelegt und sie umschlang seine Hüfte und legte den Kopf an seine Schulter. Nicht im Traum hätte sie gedacht, dass es ihr letztes gemeinsames Weihnachtsfest war.
„Welch ein schöner Ta-hag i-hist morgen!
Neue-he Freude hoffen wir;
unsre lieben E-hel-te-hern sorgen
lange, lange schon dafür ...“
Der Gesang brach ab.
Yvonne kamen die Tränen. Hastig wandte sie sich ab. In Zukunft würde sie ganz allein dastehen und sorgen müssen, nicht nur für Geschenke – für alles. Diese Vorstellung erfüllte sie mit Verzagtheit.
„Warum hörst du auf zu singen?“, wollte Lukas wissen.
„Ich habe vergessen, wie es weitergeht“, antwortete sein Bruder betreten.
„Bist du blöd!“, schrie Lukas. „Außerdem singst du falsch.“
„Stimmt ja gar nicht! Außerdem weißt du genauso wenig, wie es weitergeht.“
„Ich brauche das auch nicht zu wissen. Ich habe das Lied nicht heute gelernt.“
Yvonne räusperte sich. „Zankt euch nicht“, mahnte sie. „Geht rauf in eure Zimmer. Ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist.“
In der Küche ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Ihr graute so sehr vor dem Fest! Was gäbe sie darum, wenn sie Weihnachten dieses Jahr ausfallen lassen könnte!
„Das dürfen Sie nicht“, hatte ihr Arzt gesagt, mit dem sie darüber gesprochen hatte. „Für die Jungen muss möglichst alles so weitergehen wie bisher.“
Daraufhin hatte Yvonne schweren Herzens einen Tannenbaum gekauft, der nun auf dem Balkon stand und darauf wartete, geschmückt zu werden. „Wie soll ich das bloß überstehen?“, fragte sie sich. Den Baum hatten Michael und sie sonst am Vorabend gemeinsam geschmückt. Sie tranken ein Glas Rotwein dabei, hörten Weihnachtsmusik und freuten sich auf das Familienfest. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Yvonnes Gesicht, als sie daran dachte, dass Michael immer darauf bestanden hatte, die Kugeln allein aufzuhängen. „Ein Einzelner kann sie besser gleichmäßig verteilen“, behauptete er. Natürlich war das nur ein Vorwand. Michael pflegte nämlich sein Geschenk für sie unter den Kugeln zu verstecken.
Geschenke für die Kinder kauften sie traditionsgemäß am ersten Adventssamstag. Auch in diesem Jahr hatten sie das noch getan.
Michael hielt viel von Familientraditionen. An Heiligabend zum Beispiel gab es Nudelsalat mit reichlich Fleischwurst. Das war schon in seinem Elternhaus so gewesen. Yvonne hatte kurz überlegt, ob sie zu diesem Fest etwas anderes vorsehen sollte – und erstand am Ende wieder Fleischwurst. „Es muss möglichst alles weitergehen wie bisher“, klangen ihr die Worte des Arztes im Ohr.
„Du, Mama“, fragte Jonas beim Mittagessen, „wieso heißt es in dem Lied eigentlich: ‚Unsere guten Eltern sorgen lange, lange schon dafür‘? Wo doch das Christkind die Geschenke bringt?“
Ehe Yvonne antworten konnte, ergriff Lukas das Wort. „Glaubst du etwa noch ans Christkind?“
„Ja, sicher!“
„Lass gut sein, Lukas“, sagte Yvonne leise, aber der ließ sich nicht bremsen: „Nur Babys glauben ans Christkind.“
„Spinnst du?“, rief Jonas aufgebracht. „Pass bloß auf! Wenn das Christkind dich hört, bringt es dir zur Strafe keine Geschenke.“
„Die Eltern kaufen die Geschenke. Das weiß doch jeder!“
Jonas‘ Antwort traf Yvonne wie ein Fausthieb in die Magengrube. „Papa besorgt garantiert keine Geschenke für uns“, rief er. „Also muss es das Christkind sein.“
„Das ist überhaupt kein Beweis!“, ereiferte sich Lukas. „Bei uns besorgt eben Mama die Sachen. Oder kriegen wir übermorgen keine Weihnachtsgeschenke, Mama?“
Yvonne versuchte, geheimnisvoll auszusehen. „Wer weiß, wer weiß“, antwortete sie, „warten wir es ab. Eure Wunschzettel habe ich jedenfalls weitergegeben.“ Dabei zwinkerte sie ihrem Ältesten heimlich zu.
„Siehste?“, rief sein kleiner Bruder triumphierend.
„Pff“, machte Lukas.
Yvonne nahm alle Kraft zusammen. „Schluss jetzt!“, verlangte sie energisch. „Wenn ihr nicht sofort mit der Streiterei aufhört, gibt es Heiligabend tatsächlich keine Geschenke.“
Nach dem Essen hatte sie urplötzlich Lust auf heißes Zitronenwasser mit ganz viel Zucker. Während sie es in kleinen Schlucken trank, blätterte sie im Lokalteil ihrer Zeitung.
Es war noch gar nicht lange her, dass sie der Redaktion einen Besuch abgestattet hatte. „Um mal vorzufühlen“, schrieb sie auf den Zettel, den sie Michael hinlegte, damit er wusste, wo sie war, falls er vor ihr zu Hause sein sollte. Er hatte nämlich angerufen und gesagt, dass er wahrscheinlich früher kommen würde, weil er sich nicht wohlfühlte. Ob er ihre Nachricht noch gelesen hatte? Das fragte sie sich oft.
Beschwingt eilte sie nach der Stippvisite bei der Zeitung durch die Straßen. Es war herrlich gewesen, ihre alte Wirkungsstätte wiederzusehen! Die meisten der ehemaligen Kollegen waren noch da und sie hatte sich sofort dazugehörig gefühlt, fast wie in alten Zeiten. Und – was das Schönste war – der Chef hatte ihr Hoffnungen gemacht, dass sie im Frühjahr an ihren Arbeitsplatz zurückkehren könnte, weil eine Kollegin ein Baby erwartete und plante, in Elternzeit zu gehen.
„Wie gut“, dachte sie auf dem Heimweg, „dass ich den Termin schon vereinbart habe! Jetzt brauche ich nur noch Michael davon zu überzeugen, dass dies ein Wink des Schicksals ist. Eine Chance, die ich mir nicht entgehen lassen darf.“ Gleich am Abend, sobald die Kinder im Bett waren, wollte sie das Gespräch darauf bringen. Durch den Zettel war er ja bestens darauf vorbereitet.
Wie sehr wünschte sie sich jetzt, sie hätte an jenem Nachmittag das Haus nicht verlassen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen ...
Sie schloss die Haustür auf. Die Jungen waren noch bei der Schwiegermutter. Der Zettel, den sie Michael hinterlassen hatte, lag auf dem Flurtischchen, darauf der Wagenschlüssel, und sein Mantel hing an der Garderobe. In der Wohnung war es totenstill. Yvonne runzelte die Stirn. „Michael?“, rief sie.
Keine Antwort.
„Michael, wo bist du?“ Sie schaute ins Wohnzimmer, in die Küche, ins Schlafzimmer.
Niemand zu sehen.
Die Badezimmertür stand eine Handbreit auf und sie ließ sich nur mühsam weiter öffnen. Yvonne drückte mit aller Macht dagegen und steckte den Kopf durch den Spalt. Michael lag hinter der Tür auf dem Boden. Er war wachsbleich, sein Gesicht erschien ihr völlig fremd.
Yvonne begriff sofort, dass es um Leben um Tod ging. Sie rief den Notarzt, quetschte sich durch die enge Ritze, fiel neben Michael auf die Knie, begann mit der Herzdruckmassage und spendete ihm ihren Atem. Sie handelte nicht, sie funktionierte. Wie ein Automat, ohne nachzudenken, damit die entsetzliche Angst, die in ihr hochkroch und ihr Herz schon fast erreicht hatte, nicht bis in ihren Kopf vordringen konnte.
Der Notarzt kam und stellte Michaels Tod fest. „Aber er ... er war doch ... ganz gesund“, stammelte sie.
„Sein Herz war nicht mehr so, wie es sein sollte“, erklärte man ihr nach der Obduktion.
„Aber er hat niemals über Beschwerden geklagt“, widersprach Yvonne lebhaft, als ob sie den Doktor davon überzeugen wollte, dass Michael nicht tot war. Nicht tot sein konnte, weil er bestimmt nicht an einem Herzinfarkt gestorben war.
Der Mediziner wiegte den Kopf. „Vielleicht hat er tatsächlich nichts gespürt. Oder aber Ihr Mann wollte seine Beschwerden nicht wahrhaben. Sein Cholesterinspiegel war stark erhöht, und wahrscheinlich hatte er auch einen zu hohen Blutdruck.“
Yvonne zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Er ging nie zum Arzt.“
Der Doktor warf ihr einen Blick zu, als wollte er sagen: „Sehen Sie? Das kommt davon!“
Eine letzte Frage musste Yvonne ihm noch stellen: „Wenn ich etwas anders gemacht hätte, wäre er dann zu retten gewesen?“
Der Arzt legte ihr seine Hand auf die Schulter. „Ihr Mann war mit Sicherheit schon tot, als Sie ihn gefunden haben.“
„Und wenn ich eher versucht hätte, ihn wiederzubeleben?“
„Sein Herz war sehr schwer geschädigt. Es ist besser für ihn, dass er gestorben ist.“
Yvonne nickte. Erleichtert fühlte sie sich dennoch nicht. Was sie eigentlich wissen wollte, konnte der Arzt ihr nicht sagen: Hatte sie zu Michaels Tod beigetragen, weil er sich in der letzten Zeit zu oft und zu sehr aufgeregt hatte? Zum Beispiel über eine Nachricht auf dem Flurtischchen?
Sie quälte sich durch die ersten Tage, die Beerdigung, die Formalitäten. Beinahe ungläubig blickte sie auf ihr Leben beziehungsweise auf das, was davon übrig geblieben war. Geldsorgen würde sie keine haben, doch das tröstete sie nicht. In ihrer Brust wütete ein unerträglicher, brennender Schmerz, in ihrem Kopf herrschte undurchdringliche Wirrnis. Nur eine dünne äußere Schale verhinderte, dass sie in sich zusammenschmolz, und diese starre Hülse durfte auf gar keinen Fall Risse bekommen – der Kinder wegen. Yvonne räumte die Alltagsgegenstände fort, die Michael gehört hatten, und bezog die Betten frisch. Dann wandte sie sich Weihnachten zu.
Nicht ein Mal dachte sie in dieser Zeit darüber nach, ob sie in ihren Beruf zurückkehren sollte. Was sie überhaupt tun sollte. Sie ließ keine Fragen an sich heran. Es war nicht die Zeit für Entscheidungen.
Am Abend vor dem Fest machte sich Yvonne daran, den Baum zu schmücken. Sie schleppte ihn ins Wohnzimmer und wuchtete ihn in den Ständer. Dann holte sie die Kisten und Kästen mit den Weihnachtssachen aus dem Keller. Während sie die Kerzen auf die Zweige steckte, weinte sie so heftig, dass sie vor lauter Tränen kaum etwas sah. Nein, sie musste unterbrechen. Sie würde den Baum später weiterschmücken, wenn sie sich – hoffentlich – ein wenig gefasst hatte.
Sie schaute in die Zimmer ihrer Söhne. Jonas schlief tief und fest, obwohl er vorher mehrfach verkündet hatte, er würde bestimmt wach bleiben. „Weil Weihnachten ist und das Christkind kommt!“ Der Kleine hatte sich erstaunlich gut in die Situation eingefunden, und dafür war Yvonne dankbar.
Lukas lag mit offenen Augen im Bett.
„Hast du gerade geheult?“, fragte er.
„Mm.“
„Ich auch.“ Er drehte sich zur Wand.
Yvonne neigte sich über ihn und küsste seine feuchte Wange.
„Ich möchte eigentlich gar nicht Weihnachten feiern“, presste Lukas heiser hervor.
„Das würde Papa nicht wollen“, flüsterte sie und strich ihm übers Haar. „Und du wirst sehen, mein Großer: Wir schaffen das. Du hilfst mir, ich helfe dir, und wir beide passen auf, dass Jonas nicht traurig wird.“
Er schlang seine Arme um ihren Hals. „Okay“, murmelte er.
Sie verharrten eine Weile in der Umarmung.
„Glaubst du, Papa kann uns sehen?“, fragte Lukas.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht.“
„Das wäre schön.“
„Ja.“ Sie gab ihm noch einen Kuss. „Und jetzt versuche zu schlafen.“
Yvonne schloss leise die Tür zum Zimmer ihres Sohnes, aber sie fühlte sich immer noch nicht in der Lage, den Tannenbaum zu schmücken. Sie beschloss, zunächst den Nudelsalat zuzubereiten – wie Michael ihn gerne aß, mit Gurken und viel Fleischwurst. Aber diesmal brauchte sie nur eine kleine Schüssel, denn er war ja nicht mehr da mit seinem Riesenappetit. Bevor sie den Salat in den Kühlschrank stellte, wollte sie ihn abschmecken, aber ein jäher Widerwille machte es ihr unmöglich, auch nur einen einzigen Bissen davon zu nehmen.
Als die Küche aufgeräumt war, gab es kein Zurück mehr. Yvonne zwang sich, ins Wohnzimmer zu gehen. Als Nächstes musste sie die Kugeln an die Zweige hängen, und davor fürchtete sie sich am meisten.
Mit bebenden Fingern öffnete sie den ersten Karton. Er enthielt rote und goldene Kugeln, der zweite grüne und blaue. Und dann gab es noch einen mit Kugeln in verschiedenen Farben: rosa, silbern, violett. Michael und sie hatten die Tanne immer kunterbunt geschmückt. „Das ist der schönste Baum, den wir je hatten“, meinte Michael jedes Jahr, wenn sie fertig waren und ihr Werk betrachteten.
Yvonne verteilte die Kugeln aus dem ersten und zweiten Karton einigermaßen gleichmäßig in den Zweigen. Als sie den Deckel des dritten Kartons abhob, stutzte sie. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Da lag ein Päckchen, in Weihnachtspapier eingeschlagen und mit einer großen, roten Schleife. Es hatte ungefähr die Größe eines Taschenbuchs, aber es war härter und flacher. Michaels Geschenk für sie. Damit hatte sie nicht gerechnet! Dass er noch genug Zeit gehabt hatte, etwas für sie zu besorgen, bevor er ...
Sie biss die Zähne zusammen. Ihre Knie zitterten, sie musste sich setzen. Sollte sie das Geschenk gleich auspacken oder erst morgen? Nein, sofort. Sie wollte es tun, ohne dass die Kinder dabei waren.
Yvonne straffte die Schultern. Behutsam löste sie das rote Band und zog das Papier ab. Ein schwarzes Gehäuse mit einem Bildschirm kam zum Vorschein. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, was es war: ein Tablet PC! Michael hatte ein Geschenkkärtchen daran befestigt: „Für die künftige Starreporterin unserer Lokalzeitung“ stand in seiner großzügigen Handschrift darauf.
„Oh, Michael!“ Ein Stöhnen drang zwischen ihren Lippen hervor. Sie presste das Gerät an ihre Brust. Ein seltsames Gefühl des Trostes ging von dem harten, kalten Gegenstand aus. Es dauerte eine Weile, bis Yvonne begriff, warum: weil sie nun wusste, dass Michael ihren Wunsch akzeptiert hatte. Er war ihr nicht böse gewesen. Sie waren nicht im Streit auseinandergegangen. Er hatte sie geliebt und deshalb ihre Wünsche über seine gestellt.
„Ich danke dir, mein Liebster“, flüsterte sie in den stillen Raum hinein. „Doch es wird anders kommen, als du gedacht hast. Ich weiß es schon seit ein paar Wochen. Erst hatte ich viele Zweifel, aber jetzt bin ich mir ganz sicher: Ich sage den Termin ab. Ich will unser drittes Kind zur Welt bringen.“ Ein schwaches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. „Vielleicht wird es ja ein Mädchen.“

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