Sonntag, 8. Dezember 2013

Eine Chance für Weihnachten von Anja Ollmert



„Wer braucht schon Weihnachten?“, fragte Simone sich am 1. Dezember beim morgendlichen Blick in den Spiegel. Als sie etwas näher hinschaute, erblickte sie ein widerspenstiges winziges Haar am Kinn. Sie griff nach der Pinzette und machte ihm den Garaus. Genau, Weihnachten brauchte man ebenso wenig, wie überflüssige Haare als Wegbegleiter der Wechseljahre. Simone nickte sich selbst zu. Nur konnte man Weihnachten nicht so schnell zur Seite schieben, wie ein überflüssiges Kinnbärtchen. Dafür kam es allerdings auch nicht so schnell wieder…
Für heute jedenfalls war Simone im Zweikampf Sieger geblieben. Mal sehen, inwieweit sich das im Rahmen der leidigen Festvorbereitungen umsetzen ließ. Sie sprang unter die Dusche und ließ sich das heiße Wasser über den Körper laufen. Dabei reckte sie sich wohlig und genoss es, dass ihr niemand sagte, sie würde kostbares Trinkwasser verschwenden. Oder, dass sie längst krebsrot sein müsse, bei der gewählten Temperatur. Das Singledasein hatte auch Vorteile. Simone warf sich in Schale. Heute war Samstag und sie wollte bummeln gehen. Endlich mal ein paar neue Klamotten kaufen, im Cafe sitzen und die Leute beobachten, an der Ecke einen Imbiss genießen und genüsslich den kleinen Buchladen durchstöbern. Es war seit langem der erste Samstag, an dem sie nicht arbeiten musste. Sie zog die hippen Overknees weit den Oberschenkel hinauf. Sie saßen perfekt. Simone drehte sich vor dem Garderobenspiegel und fand, dass einzig die Kinnhaare erkennen ließen, dass sie den Zenit schon überschritten hatte.
Sie schloss die Wohnungstür und rief den Aufzug. Als sie einstieg, stand die Kleine von Meier schon drin.
„Hallo du, Frau Schröder, weißt du, was heute in meinem Adventskalender war?“, das Gör grinste. Simone mochte keine Kinder. Und sie mochte es nicht, wenn jemand sie grundlos duzte. Also strafte sie das vorlaute Kind mit Nichtachtung. Sie drehte ihm den Rücken zu und drückte auf den Erdgeschoss-Knopf.      
„Du, Frau Schröder, ich will aber eins höher und komme nicht an den Knopf. Kannst du nicht mal für mich drücken?“ 
„Ich fahre ins Erdgeschoss. Da musst du eben nochmal rauffahren. Und wenn du nicht bis oben kommst, musst du laufen.“ Simone genoss ihre billige Rache für die unerwünschten Vertraulichkeiten des Mädchens. Das zog auch sofort einen Schmollmund und holte zum Gegenschlag aus – Reden bis der Arzt kommt.
„In meinem Kalender war ein Ball. Hast du auch einen Kalender? Meine Oma hat noch einen zweiten für mich. Da darf ich heute Nachmittag das Türchen öffnen. Und bald kommt der Nikolaus und bringt mir was Süßes. Und bis das Christkind kommt, muss man auch nur noch dreiundzwanzigmal schlafen. Wie findest du das, Frau Schröder?“
Uff, endlich erreichte der Aufzug das Erdgeschoss und sie konnte dem Redefluss des kleinen Monsters entkommen. Hinter ihr glitt die Tür gleich wieder zu und das Display zeigte an, in welches Stockwerk der Aufzug fuhr. Simone grinste böse. Das Mädchen würde noch drei Etagen laufen müssen…Simone schlenderte entspannt aus dem Parkhaus in Richtung Fußgängerzone. Es war voll. Brechend voll, um genau zu sein. Unterwegs waren ihr schon Unmengen von Autos aufgefallen, die Richtung Zentrum fuhren. Klar, es war der erste verkaufsoffene Samstag im Advent. Doch sprach man in den Nachrichten nicht dauernd davon, dass die deutsche Kaufkraft nachgelassen hatte? Davon spürte Simone nichts. In der ersten Boutique, die sie zielstrebig ansteuerte, standen mehrere Pärchen vor den Kleiderständern und suchten offensichtlich ein passendes Outfit für die Weihnachtsfeiertage. Mindestens eine der Damen war hier in einer völlig falschen Gewichtsklasse, konstatierte Simone. Da konnte sie den Ständer noch so oft Karussell fahren lassen, sie würde nichts Geeignetes finden, es sei denn, sie wollte als rotkarierte Presswurst auftreten. 
„Ich komme später nochmal rein“, zwinkerte Simone der Verkäuferin zu, die bereits verzweifelt den Kopf schüttelte, als die Kundin nach weiteren Größen fragte. Irgendwann mussten die ja aufgeben und zu Happy Size wechseln. Also erst mal ins Schuhgeschäft. Vor dem Regal mit den Topmodellen lungerte ein genervter Teenie herum.
„Nein Mama, entweder die High-Heels oder ich geh barfuß“, fast hätte das Mädel mit dem Fuß aufgestampft, befürchtete Simone.
„Kommt gar nicht in Frage.“ Die Nerven der Mutter lagen ebenfalls blank. „Schau doch mal, die hier sind mit Lammfell gefüttert...“ 
„…und sind so uncool wie noch was!“, beendete die Tochter den Satz. „Die kannste ja selber kaufen, diese langweiligen Biolatschen. Und später kannst du sie kompostieren!“Mit dem Mädchen war nicht zu reden. Simone mischte sich ein:
„Sicher sind die besser für deine Füße. Frag mal beim Orthopäden, da kann man prima Einlagen reinpacken!“ Mutter und Tochter drehten sich um und bildeten eine gemeinsame Phalanx gegen die unerwünschte Einmischung.
„Ok, Louisa-Marie, welche wolltest du haben?“, die Mutter griff fragend nach dem schönsten Paar High-Heels in Größe 38, genau das Paar, auf das auch Simone scharf gewesen war. Louisa-Marie lächelte hoheitsvoll.
„Ja, die sind es. Nur 129,- Tacken.“ Die beiden wandten sich ab und eilten zur Kasse. Die ungeliebten Biolatschen ließen sie vor dem Regal stehen. Simone zog ein langes Gesicht. Jetzt gab es die High-Heels nur noch in dunkelblau. Sie hasste dunkelblaue Schuhe…Da ging sie lieber in die Buchhandlung und suchte nach den neuesten Bestsellern der Spiegel-Liste.
Der Dunst zu warm gekleideter Menschen schlug Simone entgegen. Um die Tische gruppierten sich zahllose Kaufinteressenten. Die Spielecke war voller tobender Kinder, denen vor lauter Wärme fast der Kopf platzte. Sie kreischten, wenn sie die kleine Rutsche herunter polterten, bewarfen sich mit Legosteinen, stellten einander im Vorübergehen Beinchen – kurzum, die Zwerge waren genervt, weil ihre Erziehungsberechtigten so lange vor den Regalen abhingen. Ein Kinderfuß traf schmerzhaft Simones Bein im Overknee. Sie packte das Kerlchen am Kragen und blickte sich um. Die Frau dort vorne, ein wenig abgehetzt und den Arm voller Bücher, schien zu dem Jungen zu passen.
„Ist das Ihrer? Können Sie den nicht mal ruhigstellen? Da gibt es doch Medikamente…“ Zwar hatte Simone einen Treffer in Menschenkenntnis gelandet, aber beliebt machte sie sich damit nicht.
„Lassen Sie meinen Jungen los“, zischte die Frau. „Komm, Paul-Gustav, wir gehen.“ Und dort wo sie stand, ließ sie den mühsam organisierten Bücherstapel auf einen Tisch fallen und verschwand.
„Eine Nervensäge weniger“, murmelte Simone, während ein unbekannter Aushilfsverkäufer zu ihr trat und aggressiv fragte:
„Haben Sie das hier abgelegt? Wollen Sie die Bücher nun kaufen, oder nicht? Hier kann doch nicht jeder machen, was er will.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten begann er, die Bücher wieder einzusortieren. Dabei schimpfte er leise vor sich hin, über Kunden, die sich für königliche Hoheiten hielten. Jetzt reichte es Simone langsam. Sie würde in die Parfümerie gehen und das besorgen, was sie dringend brauchte, dann würde sie nach Hause fahren. Die Freude an einem Cafebesuch war ihr vergangen.
In der Kaufhausparfümerie war die Lage nicht besser. Das hilflose Weihnachtsgeschenk vieler Männer blieb eben doch das Parfüm für die Angetraute. Das ging schnell, man konnte es einwickeln lassen und es sah teuer genug aus, um den Grad der Zuneigung zur Liebsten zu bezeugen. Gerade säuselte ein ungepflegter Mittvierziger der Bedienung, einer attraktiven Blondine, zu:
„Welchen Duft bevorzugen Sie denn?“ Aufdringlich schnuppernd näherte sich seine Nase dem Hals der Frau. Die wich ein Stück zurück und antwortete betont freundlich:
„Les Jeux sont faites“. Das Spiel ist gelaufen, grinste Simone anerkennend, doch der Mann sprach offensichtlich kein Französisch. Das würde bei der Herzallerliebsten nicht gut ankommen, es war ein reiner Herrenduft, aber der Blödmann würde es vermutlich kaufen.
Simone drehte sich zu einem Regal mit den Produkten um, nach denen sie suchte. Davor stand ein Mädchen, etwa zehn Jahre alt. Sie blickte sich verstohlen um und erkannte, dass sie beobachtet wurde. Möglichst unauffällig wechselte sie auf die andere Regalseite. Simone nahm, was sie brauchte und beschloss, das Mädchen ihrerseits im Auge zu behalten. Sie tat, als hätte sie alles und betrachtete die Auslagen. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass die Kleine soeben eine Flasche „Baiser Volé“ eingesteckt hatte. Das war mehr als ein gestohlener Kuss. Etwa 150,- Euro musste man für diese geringe Menge des Eau de Parfüm berappen. Simone trat von hinten an das Mädchen heran.
„Stell es wieder weg“, zischte sie. „Dann sag ich nichts.“ Die Kleine zuckte ängstlich zusammen. Tränen traten ihr in die Augen. Vermutlich war sie abgewichst genug, die Tränendrüsen wie einen Wasserhahn auf- und abdrehen zu können. Sie zog die Hand aus der Tasche, als die blonde Bedienung wie aus dem Nichts erschien. Das Mädchen ließ die Flasche zurückgleiten.
„Was hast du denn da gerade eingesteckt? Komm mal mit und leer deine Taschen aus, mein Fräulein.“ Nun war es aus. Die Kleine zitterte am ganzen Leib.
„Ich…“, mehr brachte sie nicht hinaus.
„Meine Tochter hat die Flasche nur für mich festgehalten. Wir waren gerade auf dem Weg zur Kasse.“ Simone hatte sich eingemischt, ohne zu überlegen. Da sie so selbstbewusst auftrat, erhob die Verkäuferin keinen Widerspruch. Sie schob das Kind Richtung Kasse, zückte ihre EC-Karte und bezahlte den stolzen Preis. „Packen Sie es bitte hübsch ein. Es soll ein Weihnachtsgeschenk sein!“ Simone setzte einen blasierten Gesichtsausdruck auf und nahm das eingewickelte Päckchen entgegen. „Komm Liebling, wir sind hier fertig.“ Die Kleine realisierte kaum, wie ihr geschah und war schon draußen auf der Straße.
„Danke“, stammelte sie.
„Dafür nicht“, erwiderte Simone. Aber beim nächsten Mal solltest du dein Glück nicht herausfordern."
„Das sollte das Weihnachtsgeschenk für meine Mutter sein. Die hat Depressionen und ich hab im Fernsehen gehört, ein schöner Duft soll dagegen helfen“, versuchte das Mädchen zu erklären.
„Dann solltest du es ihr auch geben.“
„Aber das kann ich nicht annehmen.“ Ganz rot vor Verlegenheit wand die Kleine sich.
„Ich mache sonst keine Weihnachtsgeschenke“, erklärte Simone. „Du bist eine Ausnahme. Und nun verschwinde, ehe ich es mir anders überlege. Und lass die Parfümerieprospekte zuhause verschwinden, damit deine Mutter nicht sieht, was es gekostet hat.“ Mit diesen Worten drehte Simone sich um und schritt durch die Fußgängerzone zum Parkhaus. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass das Mädchen in die andere Richtung verschwand. Schenken konnte tatsächlich Spaß machen. Dafür musste sie nicht bis Weihnachten warten.


Eine Chance für Weihnachten    © Anja Ollmert 2012



Dieser Text ist dem Adventskalender-Buch „Worauf wartet ihr noch?“  von Anja Ollmert entnommen.
24 Geschichten und Gedichte zur Adventszeit, erhältlich als
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E-Book bei Amazon und Bookrix
Mit Erlaubnis der Autorin veröffentlicht.
Viele Infos zur Person und weitere Texte und Leseproben gibt es unter www.anjaollmert.jimdo.com