Dienstag, 10. Dezember 2013

Engel vor dem Fenster von Patricia Koelle





Der Schneemann, der ganz anders wurde

„Papa“, sagte Emma vorsichtig, „können wir reingehen, ich hab Schnee in den Schuhen.“
„Na klar, aber kannst du nicht Micha zu mir sagen? An Papa kann ich mich so schnell nicht gewöhnen.“
„Gut – Micha.“ Sie probierte es aus. Es kam ihr komisch vor, aber nicht unmöglich.
Im kleinen Flur zog sie die Schuhe aus. Micha schimpfte nicht, weil jetzt überall Schneekrümel herumlagen und zu kleinen Pfützen wurden. Emma wollte in ihrer Tasche nach ihren Hausschuhen kramen, ließ es aber sein. Vielleicht durfte man hier in Strümpfen herum­laufen?
„Komm!“, rief Micha von irgendwo. „Hast du Hunger?“
Sie folgte seiner Stimme in die Küche und sah sich staunend um. Auf dem Herd stand ein Topf mit sehr vielen Würstchen. Der Tisch war voller Teller mit Käse, Gurken, Brötchen, Radieschen, Eiern, und in der Mitte prangte eine große Schüssel Kartoffelsalat.
„Nimm dir, was du magst“, sagte Micha. „Oder wir warten auf meine Gäste. Die kommen gleich. Ich habe sie zum Mittagessen ein­ge­laden, weißt du, weil sie abends alle bei ihrer Familie sein müssen. Wegen Weihnachten.“
„Das musst du ja heute auch“, sagte Emma. „Wegen mir hast du jetzt auch eine Familie. Jedenfalls eine halbe.“
„Stimmt“, sagte Micha. Er klang überrascht.
„Hast du eine Freundin?“
„Zur Zeit nicht. Aber jede Menge Freunde. Und die“, er lauschte mit geneigtem Kopf, „sind gerade im Anmarsch.“
Emma hörte Lachen und Stimmen, die wie eine Welle gegen die Haustür rauschten, dann klingelte es Sturm.
Micha ging öffnen. Emma zog sich vorsichtshalber in die Ecke neben dem Kühlschrank zurück.
Plötzlich war die Küche voller Männer. Emma zählte fünf. Nein, mit Micha sieben. Sie sprachen alle durcheinander, lachten und stürzten sich auf das Essen.
„He, langsam!“ Michael wedelte mit den Armen, weil ihm keiner zuhörte. „Ihr müsst euch bitte ein bisschen benehmen. Erstens ist Weihnachten und zweitens haben wir Damenbesuch.“
„Wie?“ Suchend sahen sie sich um. Einer entdeckte Emma in der Nische neben dem Kühlschrank. „Wen haben wir denn da? Einen schüchternen Weihnachtsengel?“ Schon hatte er sie sanft unter den Armen gepackt und stellte sie auf einen Stuhl. Alle sammelten sich im Kreis und staunten sie an, als wäre sie vom Himmel gefallen.


© Patricia Koelle




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