Sonntag, 15. Dezember 2013

Weihnachten mit Max und Maus von Ramona Stolle


Ein Engel mit Schal

Lisbeth stand vor dem Geschäft und drückte sich die Nase an der
Scheibe platt. Es war alles so schön weihnachtlich da drinnen, dass sie
gar nicht weiter gehen konnte, obwohl Mama bestimmt längst zu Hause
wartete. Die bunten Lichter, der weiche Pulverschnee aus Watte, die
Stofftiere mit ihren roten Mützen und noch vieles mehr fesselten das
Mädchen so sehr, dass es die Zeit vergas. Sein Blick wanderte zu der
beleuchteten Stadt, den Schneemännern mit roten Karottennasen aus
Keramik und dem Weihnachtsmann, der immer wieder seinen Arm hob
und mit einem Glöckchen klingelte. Schließlich hielt sie inne. Dort stand
das Schönste, was sie seit langem gesehen hatte. Abgesehen von Linda
natürlich, die sie ja erst vor zwei Monaten zum Geburtstag bekommen
hatte. Linda war die schönste Puppe der Welt, aber das da im
Schaufenster war eindeutig die schönste Schneekugel der Welt. Lisbeth
betrachtete die gläserne Pracht, die auf einem goldenen Sockel stand.
Am Boden im Inneren lag weißer Glitzerschnee und in der Mitte stand
ein Engelchen mit langen blonden Locken, einem langen, weißen Kleid
und zwei goldenen Flügeln, die auf seinem Rücken befestigt waren.
„Schön“, flüsterte das Mädchen, „du bist so schön.“
„Wirklich?“, fragte da eine freundliche Stimme direkt neben ihr. „Gefalle
ich dir?“
„Na hör mal“, empörte sich Lisbeth und drehte sich zur Seite. Was sie
dort sah, konnte sie nicht glauben. Genau neben ihr stand der Engel mit
den blonden Locken. Für einen Moment war sie still, dann fuhr ihr Kopf
herum und sie suchte nach der Schneekugel. Die stand auf der Stelle, wo
sie auch eben schon gestanden hatte, aber sie war leer.
„Wie machst du das?“, stotterte Lisbeth. „Du hast vor einer Minute noch
im Pulverschnee gestanden. Ich habe dich in der Schneekugel gesehen.“
„Hi, hi“, juchzte der Engel, „du darfst nicht alles glauben, was du
siehst.“
„Würdest du das mal meiner Lehrerin erzählen“, antwortete Lisbeth und
sie hatte gerade das Gefühl, als wäre es das Normalste der Welt, auf
einer Hauptstraße zu stehen und mit einem Engel zu reden.
„Ich heiße Mindy“, sagte der Engel.
„Ich bin Lisbeth.“ Lisbeth begann das Wesen vor ihrer Nase ganz genau
anzusehen.
„Das weiß ich“, kicherte der Engel und dabei wippten seine Flügel auf
und ab.
Während die beiden auf der Straße standen, fielen schon wieder
Schneeflocken vom Himmel. Der Wind wehte kalt und Lisbeth zog sich
ihren Lieblingsschal ein bisschen fester um den Hals. Sie hatte immer
geglaubt, dass Engel nicht frieren würden, aber als sie Mindy etwas
genauer betrachtete, fiel ihr doch die rote Nase im Gesicht auf.
Wahrscheinlich hielt das weiße Kleidchen auch nicht sehr warm. Es gab
also doch Situationen, da halfen die tollsten Flügel nicht weiter. Lisbeth
wickelte ihren Schal ab und ohne Zögern reichte sie ihn dem Engel.
„Ich muss jetzt leider nach Hause“, sagte sie, „aber den will ich dir hier
lassen.“ Sie reichte Mindy den Schal aus lila Wolle. „Er hat leider an
einer Stelle ein kleines Loch, aber sonst ist er echt gut und total warm.“
Dann lief Lisbeth los. Sie war schon viel zu spät dran, aber einmal drehte
sie sich doch noch um. Mindy hatte sich gerade den Schal um den Hals
gewickelt und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
Mama war nicht böse, weil Lisbeth etwas später zum Essen kam.
„Ich mache mir eben Sorgen, wenn du nicht pünktlich bist“, lächelte sie
und fuhr ihrer Tochter durch das dicke, braune Haar. „Es kann natürlich
mal passieren, dass man aufgehalten wird.“
„Ja“, prustete Lisbeth, „besonders, wenn man einen Engel trifft.“
Mama sah ungläubig zu ihrer Tochter. Sie betrachtete die Hände, die
Stupsnase und die Sommersprossen und dann fiel ihr auf, dass der Schal
fehlte.
„Den hat Mindy“, beteuerte Lisbeth.
„Du hast ihn verloren“, sagte Mama. „Das kann ja mal passieren. Du
musst deshalb nicht lügen.“
Lisbeth drehte sich beleidigt um und ging in ihr Zimmer. Sie hatte die
Wahrheit gesagt, aber die Erwachsenen konnten sich eben nicht
vorstellen, dass man ab und zu auch einen Engel auf der Straße treffen
konnte. Sie nahm sich vor, die Sache mit Mindy und dem Schal niemals
mehr zu erzählen.
„Pah“, schimpfte sie leise und nahm Linda in den Arm, „das hat Mama
jetzt davon. Jetzt wird sie niemals erfahren, dass Engel manchmal in
einer Schneekugel wohnen.“
Zwei Stunden später, hatte Lisbeth sich entschieden, auf jeden Fall
wieder mit Mama zu spielen und lustig zu sein.
Zwei Tage später fuhren Mama, Papa und Lisbeth zu einem kleinen
Hügel außerhalb der Stadt. Dort konnte man prima Schlittenfahren und
einen Schneemann bauen. Lisbeth hatte sich warm angezogen. Um den
Hals trug sie Papas braunen Schal mit Fransen an beiden Enden. Der war
total altmodisch und Mama hatte über das verfilzte Ding gelacht.
Zwei Wochen später war endlich Weihnachten.
„Du kannst kommen“, flüsterte Mama. „Bescherung!“
Papa stand mit glasigen Augen im Zimmer. Oma und Opa waren
gekommen, um dabei zu sein, wenn die Geschenke ausgepackt wurden.
Lisbeth hatte sie heute noch nicht gesehen, denn sie musste immer in
ihrem Zimmer warten, bis die Vorbereitungen beendet waren.
Wahrscheinlich hatte Opa wieder geholfen, den Baum zu schmücken
und Oma hatte sich um die Gans gekümmert. Jetzt strahlten sie ihr
Enkelkind an und sangen dabei aus tiefster Kehle: „Sti-hi-lle Nacht.“
Mama stupste Lisbeth ein bisschen an, dass sie weiter gehen sollte. Sie
schob sie in Richtung Tannenbaum, der komplett in Gold geschmückt
vor dem Fenster stand.
Als endlich alle zu Ende gesungen hatten, kam Lisbeths großer Moment.
Sie hatte sich gut vorbereitet und das Gedicht vom Christkind, das aus
dem Wald kam, gelernt. Alle sahen sie an. Oma sprach leise mit, Opa
lächelte, Papa sah unheimlich stolz aus und Mama weinte. Dann gab es
die Geschenke.
„Oh, wie schön“, flötete Mama.
„Woher wusstest du, dass ich genau das haben wollte“, rief Oma
entzückt.
„Genau mein Geschmack“, brummte Opa.
„Was ist denn das?“, fragte Papa.
Ganz still stand Lisbeth da und hielt ein Geschenk in den Händen. Sie
blickte nur auf das Papier und spürte, dass ihr Herz zu pochen begann.
Nur wenige Minuten später waren vier Augenpaare auf sie gerichtet.
„Was hat denn Lisbeth da?“, fragte Oma und sah Mama mit großen
Augen an.
„Ich weiß nicht.“ Mama zuckte mit den Achseln. „Ich dachte, das
Päckchen ist von dir.“
„Aber, aber“, lachte Opa, „die Geschenke bringt doch der
Weihnachtsmann.“
Oma warf Opa einen grimmigen Blick zu.
Der CD Player spielte „Lasst uns froh und munter sein“.
Lisbeth hörte nicht, was gesprochen wurde. Ihre Aufmerksamkeit galt
nur diesem goldverschnürten Päckchen. Sie spürte, dass etwas
Magisches von ihm ausging. Andächtig wickelte sie ihr Geschenk aus.
Das Seidenpapier schwebte ganz sanft auf den Boden und etwas
Flauschiges lag in ihren Händen. Lisbeth streichelte über die weiche
Wolle des lila Schals. An der Stelle, wo einmal ein Loch gewesen war,
hatte jemand goldene Flügel aufgestickt.
„Das ist doch der alte Schal“, staunte Oma.
Doch Lisbeth lächelte nur glücklich und drückte das Geschenk fest an
sich. Dabei spürte sie etwas Hartes und begann, danach zu suchen.
Mitten im lila Flausch entdeckte sie dann das schönste Geschenk von
allen.
„Fröhliche Weihnachten, Mindy“, freute sich Lisbeth und hielt eine
wunderschöne Schneekugel in die Höhe.
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