Montag, 8. Dezember 2014

Adonis und die heilige Nacht von Marion Pletzer


Illustration von Krisi Sz.-Pöhls

„Singen?“  Entsetzen lag in Bens Stimme
„Jawohl, singen. Das haben wir früher immer gemacht“, beharrte ich.
„Lina, das ist total uncool. Leg doch einfach eine CD auf“, sagte Torben.
„Ihr dürft euch auch ein Lied aussuchen. Glaubt mir, danach ist die Bescherung umso schöner.“
Die Gesichter meiner  Neffen wurden immer länger. Hilfe suchend schauten sie sich zu ihrer  Mutter um.
„Lass die beiden, Lina. Das macht man heute nicht mehr so“, sagte sie.
„Ihr seid richtige Stimmungskiller“, schimpfte ich. Das erste Weihnachten seit Jahren, das bei mir Zuhause stattfand und die Kinder wollten künstliche Musik, künstlichen Schmuck und am besten noch einen künstlichen Baum. Nicht einmal Tante sagten sie.
„Helft Ihr mir wenigstens beim Tannenbaum schmücken?“, fragte ich in der Hoffnung,  wenigstens ein bisschen Stimmung aufkommen zu lassen.
Die Jungs sahen sich an. „Nö, wir spielen lieber mit Adonis.“
Sofort als er seinen Namen hörte, kam Adonis angesprungen, einen Gummiknochen im Maul und die drei liefen nach draußen. Ärgerlich stampfte ich die steile Stiege zum Dachboden hinauf.
Seit der Geburt der Kinder waren  Mutter und ich an jedem Heiligen Abend zu meiner Schwester Theresa gefahren, weil es so viel einfacher war. Roger zelebrierte mal Gans, mal Pute. Ben und Torben verschwanden sofort, nachdem sie die Geschenke  ausgepackt hatten, in ihren Zimmern. Gegen dreiundzwanzig Uhr fuhren wir wieder zurück.
Im Sommer war Mutter gestorben. Nicht unerwartet, aber dennoch plötzlich und mir fehlte  die Lust diesen Weihnachtsbesuchsrhythmus  fortzuführen. Doch das Haus war leer. Zu leer, um an Weihnachten allein zu bleiben. Kurzerhand lud ich alle zu mir ein und erstaunlicherweise sagten sie zu.  Doch so, wie es jetzt lief, hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Ich öffnete die Tür zum Dachboden und wurde sofort von eisiger Luft eingehüllt. Atemwölkchen bildeten sich vor meinem Gesicht, stiegen auf und verflüchtigten sich.
Zahlreiche  Kartons standen teils gestapelt, teils unordentlich herum, wie Dosen in einer Wurfbude auf der Kirmes. Nach einigem Hin und Herschieben fand ich den Karton mit dem Weihnachtsschmuck  und trug ihn nach unten. Das Paket mit den elektrischen Kerzen lag bereits auf dem Tisch. Mein einziges Zugeständnis an die Moderne, das dem vor kurzem noch halbverhungerten griechischen Findelkind geschuldet war, das draußen mit den Kindern spielte. Hätte ich gewusst, dass er sich innerhalb von zwei Monaten zu einem Hund mit einer offensichtlichen ADHS-Störung  entwickeln würde, hätte ich mich von seiner mitleiderregenden Erscheinung nicht erweichen lassen.
Auf dem Boden des Wohnzimmers breitete ich zunächst die Lichterkette aus und prüfte sie auf Vollständigkeit. Dann öffnete ich den etwas muffig riechenden Karton und legte vorsichtig den oben aufliegenden Strohstern zur Seite.  Meine Oma hatte ihn vor vielen Jahren zusammen mit ihren Kindern gebastelt.  Geschnitzte, bunt angemalte Holzpferdchen, Engel und Nussknacker kamen zum Vorschein, sowie goldene Tannenzapfen. Ganz unten entdeckte ich eine Spieluhr. Seit Ewigkeiten hatte ich sie nicht mehr in den Händen gehalten. Ich zog die Mechanik auf und sie auf die Fensterbank. Leise klingend ertönte Stille Nacht, heilige Nacht. Zu der Melodie drehten sich ein Nikolaus, ein Kind auf einem Pferd, zwei Rehe und eine Tanne. Im Klang der Musik sah ich Theresa und mich  im warmen Lichterglanz des Weihnachtsbaumes sitzen. Mutter spielte Klavier, wir sangen Weihnachtslieder dazu, sagten Gedichte auf und packten danach mit strahlenden Augen Geschenke aus.
Ein verdächtiges Geräusch holte mich in die Gegenwart zurück.
 „Adonis, aus!“, schrie ich. Die Lichterkette zwischen den Zähnen, drehte Adonis sich nur kurz zu mir um. Ich bin sicher, er verzog die Lefzen zu einem triumphierenden Grinsen. Mit langen Sätzen entschwand er meinen Blicken, während die Kette unter seinem Bauch auf und ab hüpfte. Ich folgte ihm nach draußen. Bestimmt lag er unter einem Busch und zerlegte gerade die letzten Reste meiner Weihnachtsstimmung.
Torbens ausgestreckter Arm wies stumm in Richtung der Ligusterhecke.
„Adonis, Banane!“, schmeichelte ich, bemüht, ihn meinen Zorn nicht spüren zu lassen. Es raschelte im Gebüsch. Ein schwarzer Schnauzbart lugte hervor.  „Sieh mal, was ich habe. “
Seine Nase zitterte, als er versuchte, den Duft seines Lieblingsobstes zu erschnüffeln. Dann kroch er unter der Hecke hervor. Schnell fasste ich ihn am Halsband. Diesmal trug ich das triumphierende Grinsen auf dem Gesicht.
Die Weihnachtsbeleuchtung wies außer ein paar Zahnabdrücken keine Schäden auf und ich befestigte sie sofort an den Zweigen der Tanne. Dann hängte ich Holzfiguren und Tannenzapfen dazu. Die Spitze zierte der Strohstern meiner Großmutter.
Die Kinder betrachteten den Baum mit kritischen Blicken.
„Da fehlt Lametta“, sagte Ben.
„Und goldene Kugeln“, fügte Torben hinzu.
„Alles künstlich“, erwiderte ich. „Wir schmücken den Baum nur mit natürlichen Sachen.“
„Ach, und die Kerzen?“ Ben schnaubte.
„Das ist nur, damit Adonis nicht alles in Brand setzt“, verteidigte ich meine Inkonsequenz. Theresa erschien in der Wohnzimmertür. Feuchte Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht und um die Hüften trug sie Mutters Schürze.  Darin sah sie ihr so ähnlich, dass ich schlucken musste.
„Sehr hübsch, Lina“, sagte sie mit Blick auf den Baum.
„Mama, wann gibt‘s Essen?“, fragte Ben, begierig auf die nach dem Essen stattfindende Bescherung. „Das dauert noch. Beschäftigt euch so lange alleine.“  Theresa wandte sich mir zu. „Du siehst nicht glücklich aus.“
„Nein, doch. Ich wollte den Heiligen Abend gerne so haben wie früher. Weißt du noch? Als wir klein waren. Schau mal.“ Ich zog die Spieluhr auf und sofort füllte die Melodie wieder den Raum.
Theresa lächelte versonnen und summte das Lied mit.
„Ja, das war schön“, murmelte sie.
„Theresa! Wo bleibst du denn?“, rief Roger aus der Küche.
„Ach, herrjeh, den habe ich ja fast vergessen. Hast du Beifuß für die Gans?“, fragte Theresa.
Ich nickte und folgte ihr in die Küche.

Draußen war es dunkel geworden. Auf dem festlich gedeckten Tisch brannten Kerzen, deren Licht sich in den Kristallgläsern brach. Dampfende Schüsseln, gefüllt mit Rotkohl und Klößen, standen bereit und Roger trug die knusprig braune Gans auf einer silbernen Platte herein.
„Wollt ihr wirklich nicht singen?“, wagte ich einen letzten Versuch.
Die Kinder schüttelten die Köpfe.
„Mach mal, Papa. Ich hab Hunger“, drängte Ben stattdessen und setzte sich an den Tisch.
Seufzend fügte ich mich ihrem Willen, stellte den CD-Player an und die Wiener Sängerknaben sangen „Leise rieselt der Schnee.“
Während Roger die Gans tranchierte, schob ich den Stecker der Weihnachtsbaumbeleuchtung in die Dose. Es gab einen lauten Knall. Eine Stichflamme schoss aus der Steckdose. Die Lichter gingen aus. Die Musik erstarb. Und ich landete mit einem Aufschrei auf dem Boden.
Alles war still. Nur die Kerzen flackerten stimmungsvoll.
„Lina, ist alles in Ordnung?“, hörte ich Theresas  besorgte Stimme.
„Ja, ja“, stotterte ich ein wenig benommen.
„Was hast du denn jetzt gemacht?“, fragte Ben ungerührt. Allmählich dämmerte mir, was geschehen war.
„Adonis“, antwortete ich. „Er hat an der Lichterkette gekaut.“
„Und du hattest Angst, er könnte alles in Brand setzten.“ Ben kicherte und streichelte den zu Unrecht Beschuldigten, der heftig wedelnd neben ihm saß.
Der Weihnachtsbaum leuchtete nicht an diesem Heiligen Abend. Dafür spielte die Spieluhr
„Stille Nacht, heilige Nacht“. Theresa und ich sangen dazu.
  ©Marion Pletzer



Marion Pletzer, Autorin von Kurzgeschichten und Romanen.


Krisi Sz.-Pöhls ist 44 Jahre alt und lebt recht zurückgezogen in Oppenheim am Rhein.

Malen gehört seit ihrer Kindheit zu ihren Hobbys. Mittels Fortbildungen ist die Autodidaktin Künstlerin geworden.

Mehr von ihr auf ihrer Homepage www.salidaswelt.com oder bei  www.zazzle.de/mbr/238764950947258943