Mittwoch, 24. Dezember 2014

Die Weihnachtsgans von Martina Pawlak

Foto Eva Joachimsen

                                              
Helga Bachmann war es leid. Jedes Jahr am Heiligen Abend Kartoffelsalat und Würstchen zu essen, mochte zwar Tradition in ihrer Familie sein, aber in diesem Jahr sollte einmal etwas Besonderes auf den Tisch. Tagelang hatte Helga emsig in ihren Kochbüchern geblättert und war schließlich fündig geworden. Als Vorspeise würde es einen kleinen Salatteller geben. Danach gefüllte Gans, mit selbst gemachten Kartoffelklößen und Rotkohl. Und zum Nachtisch wollte sie ihren Mann Heinrich mit Vanilleeis und Rumtopffrüchten überraschen. Den Rumtopf hatte Helga bereits vor Monaten angesetzt. Heimlich natürlich, denn sie wollte ihren Heinrich keinesfalls auf den Gedanken bringen, verfrüht von den verbotenen Früchten zu naschen. Schon beim Gedanken an dieses Festmahl lief Helga das Wasser im Munde zusammen.

Der Zufall wollte es, dass Helga Bachmann wenige Tage vor Weihnachten einen Werbezettel in ihrem Briefkasten fand.
Aktion: Weihnachten mit Gans!
Zum heiligen Feste nur das Beste! 
Wunderbare Gänse* von Bauer Hänse!

Eine kleine Skizze zeigte den Weg zum Hänse-Hof und so machte sich Helga gleich auf, um eine Gans vorzubestellen.

Der kleine Hof machte einen ordentlichen Eindruck und die gut genährten Gänse, die neben dem schmucken Bauernhaus auf einer Wiese frei herumliefen, sahen ausgesprochen zufrieden und glücklich aus.
»Frau Bachmann, ich versichere Ihnen, Sie bekommen die frischeste Gans, die je eine Küche von innen gesehen hat. Selbstverständlich liefere ich Ihnen das Tier bis direkt vor die Haustür. Sie können also den Festtagen ganz gelassen und entspannt entgegensehen», versprach der Bauer und ein breites Lächeln zog sich über sein rundes und leicht gerötetes Gesicht.
Der Preis für die Gans war recht hoch, aber wer eine gewisse Qualität verlangt, muss auch bereit sein, dafür tiefer in die Tasche zu greifen. Geschmacklich käme eine Tiefkühlgans sicher nicht an die Hänse-Gänse heran. Helga war zufrieden und zahlte.

Am Mittag des Heiligen Abends, der Weihnachtsbaum stand bereits geschmückt im Wohnzimmer, klingelte es an der Haustür. Helga stand in der Küche und bereitete gerade den Salat vor. Zwischendurch überprüfte sie immer mal wieder die Güte der einzelnen Bestandteile des Rumtopfs. Heinrich, der ihr hilfreich zur Seite stehen wollte, wurde von Helga aus der Küche geworfen. Sein Überprüfen stand leider in keinem Verhältnis zu den anderen anliegenden Arbeiten.

»Machst du mal bitte auf, Heinrich«, rief sie in Richtung Wohnzimmer. »Das wird Bauer Hänse mit der Gans sein.«  Heinrich legte seine Zeitung beiseite, ging zur Tür, öffnete und   … sah direkt in das schnäbelige Gesicht einer großen weißen Gans. Das Tier trug ein schwarzes Jacket und hatte eine ebenfalls schwarze Fliege um den Hals gebunden. Höflich lüpfte die Gans den winzigen Hut auf ihrem Kopf.
»Guten Tag. Gänserich, mein Name. Ich bin bestellt. Darf ich hereinkommen?« und ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich die Gans … Verzeihung, der Gänserich … an Heinrich vorbei. Den Koffer, den der Gänserich unter seinen Flügel geklemmt hatte, bemerkte Heinrich erst, als der Vogel ihm das Gepäckstück einfach in die Hand drückte.

»Helga, die Gans ist da.«
»Hervorragend. Einen Moment, ich komme gleich.«
»Nicht Gans … Gänserich, einfach nur Herr Gänserich«, bemerkte Herr Gänserich förmlich. »Darf ich vielleicht ablegen?« Schon machte er Anstalten, seine Jacke auszuziehen und sah sich dabei interessiert im Flur um.
»Helgaaaa!«, brüllte Heinrich.
»Nun schrei doch nicht so. Macht sie wenigstens einen guten Eindruck?« Helga wischte die Hände an ihrer Schürze ab und trat in den Flur. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
  
»A-a-aber … «, stotterte sie, »aber das ist doch nicht möglich. Das soll die Gans sein?« »Gänserich«, verbesserte Herr Gänserich und streckte Helga zur Begrüßung seinen rechten Flügel entgegen. »Hübsch haben Sie es hier«, stellte er sachlich fest. »Sie gestatten, dass ich mich ein wenig umsehe und mich mit den Örtlichkeiten vertraut mache?« Und er watschelte gleich ins Wohnzimmer.

Heinrich zog Helga in die Küche und schloss die Tür.
»Bist du wahnsinnig, Frau? Was zum Henker hast du da bestellt?« Heinrich raufte sich die wenigen Haare, die ihm im Laufe der Zeit noch geblieben waren.
»Nur eine frische Gans«, gab Helga etwas hilflos zurück.
»Frischer geht es wohl kaum.« Der Sarkasmus in Heinrichs Stimme war nicht zu überhören. »Und was machen wir jetzt mit der frischen Gans?«
»Was sollen wir schon mir ihr machen?« Helga gewann langsam ihre Fassung zurück. »Du holst jetzt die Axt und haust dem Federvieh den Kopf ab.« Dabei machte sie eine eindeutige Handbewegung.
»Spinnst du? Ich soll dem Gänserich den Kopf abschlagen? Nein, meine Liebe, ich … », wollte Heinrich abwehren, aber Helga unterbrach ihn gleich.
»Stell dich nicht so an, mach es einfach. Sonst gibt es heute nichts zu essen.« Helga schob Heinrich eine leckere, rumgetränkte Frucht in den offenen Mund und ihn dabei aus der Küche.

Heinrich holte die Axt aus dem Stall und betrachtete missmutig die glänzende, scharfe Schneide. Ihm war übel. Er, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, sollte nun eine Gans … ähm … einen Gänserich umbringen? Mit schweißnassen Händen umklammerte Heinrich den Griff der Axt und schlich in den Flur. Leise öffnete er die Wohnzimmertür und hob die Axt über seinen Kopf.  Herr Gänserich saß friedlich auf dem Sofa und sah fern.Verdutzt ließ Heinrich die Axt wieder sinken.
Der Gänserich drehte sich zu ihm um. Schnell versteckte Heinrich die Axt hinter seinem Rücken. »Oh, Herr Bachmann. Möchten Sie sich vielleicht zu mir setzen?«, fragte der weiße Vogel höflich. »Es läuft gerade 'Ist das Leben nicht schön?'. Ich liebe diese alten Klassiker.« Ein wohliges Schnattern entwich seinem Schnabel.
»Nein, vielen Dank … später vielleicht«, lehnte Heinrich ab. »Ich wollte … ja was wollte ich eigentlich? Ach so, ich wollte nur fragen, ob ich Ihnen vielleicht etwas anbieten kann?«
»Danke, im Augenblick bin ich noch gut versorgt.« Herr Gänserich wies auf den Teller mit den Weihnachtsplätzchen, von dem er sich bereits bedient hatte. »Wenn mir etwas fehlt, sage ich Ihnen Bescheid. Ist das in Ordnung?« Seine kleinen schwarzen Knopfaugen funkelten und fast sah es so aus, als würde er seinen Schnabel zu einem Lächeln verziehen. 
Verflixt noch mal dachte Heinrich. So funktioniert das nicht. Er konnte doch nicht am Heiligen Abend einem friedlich fernsehenden Gänserich den Kopf abschlagen. Nein, das brachte er einfach nicht fertig.
Herr Gänserich widmete sich wieder dem Fernsehprogramm und Heinrich schlurfte mit hängenden Schultern zurück in die Küche.

»Und?« Helga schluckte schnell die Kirsche herunter, die sie sich gerade eben aus dem Rumtopf gefischt hatte. »Wo ist der Gänserich?«
»Immer noch im Wohnzimmer.«
»Was macht der denn noch im Wohnzimmer? Du solltest doch …«
»Er sieht fern.«
»Was sieht er????«
»Ist das Leben nicht schön?«
»Ich wollte nicht wissen, was … ach, du bist ein erbärmlicher Feigling, Heinrich. Los gib her.« Helga riss Heinrich die Axt aus der Hand. »Wenn man nicht alles selber macht.« Ärgerlich stürmte sie an Heinrich vorbei. Frustriert suchte Heinrich nach einer Erdbeere. Die fand er besonders lecker. Die Pflaumen schmeckten aber auch nicht übel, stellte er ganz nebenbei schmatzend fest.
Helga hatte inzwischen axtschwingend das Wohnzimmer erreicht und stieß nun die Tür mit Schwung auf.

»Psssst!« Herr Gänserich legte die Flügelspitzen an den Schnabel. »Jetzt kommt die schönste Stelle.
Hören Sie nur 'Immer, wenn ein Glöckchen klingelt, bekommt ein Engel seine Flügel'. Ach, ich bin immer wieder ganz gerührt.« Und er wischte sich eine Träne aus den Augen.
Ein weinender Gänserich … das war zu viel für Helga. Die Axt rutschte ihr aus den Händen und fiel polternd zu Boden. Helga machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück in die Küche. Dort ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und brach in Tränen aus.
»Was ist denn los?« Heinrich ließ genüsslich eine Himbeere im Mund zergehen.
»Ich kann es nicht. Ich kann dem Gänserich keine Feder krümmen«, schluchzte Helga. »Dabei hatte ich mich doch schon so auf den Gänsebraten gefreut. Was machen wir denn jetzt?« Verzweifelt sah Helga ihren Mann an, der ihr tröstend eine Weintraube in den Mund steckte.
»Wie wäre es mit Kartoffelsalat und Würstchen?« Herr Gänserich hatte leise die Küche betreten und strich Helga nun sanft mit seinen Flügeln über den Kopf.
 »Aber ich hatte Sie doch extra zum Braten bestellt, Herr Gänserich. Da sehen Sie … der Bräter steht schon für Sie bereit.« Helga wies auf den großen Schmortopf auf dem Herd.
Herr Gänserich reckte den Hals. »Aber Frau Bachmann, Sie glauben doch wohl nicht allen Ernstes, dass ich in diesen Topf klettere. Nun sagen Sie bloß, Sie wollten mich  verspeisen?« Vorwurfsvoll sah Herr Gänserich Helga an.
»Ja, deswegen hatte ich Sie doch vorbestellt, Herr Gänserich. Und weil ich auf ein besonders frisches Exemplar wert gelegt habe, war ich bei Bauer Hänse. 'Wunderbare Gänse von Bauer Hänse'. Genau das hat auf dem Zettel gestanden. Ich weiß es noch genau.« Helgas Stimme vibrierte und sie schnaubte lautstark in ein Taschentuch.
»Frau Bachmann, Sie sollten sich für Ihre Absichten schämen. Und Sie ebenfalls, Herr Bachmann, denn immerhin haben Sie Ihre Frau bei ihrem hinterhältigem Plan unterstützt. So eine Tat gehört sich einfach nicht. Schon gar nicht an Weihnachten.« Herr Gänserich war nun wirklich etwas ungehalten und sah das Ehepaar Bachmann streng an.
»Haben Sie denn nicht das Kleingedruckte gelesen? Sie müssten doch wissen, dass man IMMER das Kleingedruckte lesen sollte.« Mit einem schnellen Flügelschlag zog der Gänserich einen dieser Werbezettel von Bauer Hänse aus seinem Gefieder hervor.

Aktion Weihnachten mit Gans!
Zum heiligen Feste nur das Beste!
Wunderbare Gänse* von Bauer Hänse“

*NICHT ZUM VERZEHR GEEIGNET!
Teilnehmer der Aktion 'Weihnachten mit Gans' verpflichten  sich, das ihnen überlassene Tier für die Dauer der Weihnachtsfeiertage bei sich aufzunehmen, es auf eigene Kosten zu versorgen und ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.
Nach Beendigung der Aktion entscheidet ausschließlich das Tier, ob es beim Teilnehmer bis zu seinem natürlichen Ableben verbleibt oder unverzüglich und selbstverständlich unversehrt dem Vermittler … hier: Bauer Hänse … übergeben wird.
Wir wünschen viel Vergnügen bei der Aktion 'Weihnachten mit Gans' und ein gesegnetes Weihnachtsfest.

»Helga!! Hast Du etwa wieder aus Eitelkeit Deine Brille nicht aufgesetzt?«, schimpfte Heinrich.
Helga zuckte nur mit den Schultern.
»Herr Gänserich, ich möchte mich in aller Form bei Ihnen für dieses Missverständnis entschuldigen«, sagte Heinrich zerknirscht und bot Herrn Gänserich schnell einige Johannisbeeren an.
»Schon gut, ich habe ja noch alle Federn beisammen«, nuschelte der mit Beeren gefüllte Schnabel des Vogels. »Ich schlage vor, Sie bereiten jetzt den Kartoffelsalat zu, Frau Bachmann. Ich decke in der Zwischenzeit den Tisch. Herr Bachmann, Sie sind mir doch sicher behilflich dabei.« Das Angebot des Gänserichs klang versöhnlich und er watschelte wieder ins Wohnzimmer.
Helga und Heinrich blieben etwas beschämt in der Küche zurück.
»Herr Gänserich ist wirklich ein kluger Gänserich und Gott sei Dank nicht nachtragend«, stellte Heinrich fest. »Ich geh ihm mal zur Hand oder besser gesagt zum Flügel.«
Helga nickte und begann, die Zutaten für den Kartoffelsalat klein zu schneiden.

Es wurde der merkwürdigste und zugleich wunderbarste Heiligabend, den Bachmanns je erlebt hatten. Helgas Kartoffelsalat schmeckte wie immer sensationell und wurde von Herrn Gänserich in höchsten Schnatterlauten gelobt. Zum Nachtisch gab es Vanilleeis … ohne Rumtopffrüchte. Offensichtlich hatten diese die Aufregung am Nachmittag nicht überlebt.
Nach dem Essen fand die Bescherung statt. Auch Herr Gänserich war nicht mit leeren Flügeln gekommen. Aus seinem Köfferchen zauberte er einige hübsch verpackte Päckchen, die er feierlich Helga und Heinrich überreichte.
Im Verlauf des Abends erwies sich Herr Gänserich, der bis dahin etwas steif dahergekommen war, als ausgesprochen unterhaltsamer Vogel. Ob es nun am Zauber der Weihnacht lag oder an dem nun fruchtlosen Rumtopf, in den er oft und gerne seinen Schnabel steckte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Aber es heißt, Herr Gänserich habe laut gesungen und zu später Stunde noch ausgelassen mit Helga getanzt.

Was tatsächlich an diesem Abend passiert ist, konnte am 1. Weihnachtstag niemand mehr genau beantworten. Heinrich meinte, er hätte in der Nacht einen großen, mit Pyjama bekleideten, tief schlafenden Vogel auf dem Sofa gesehen. Helga glaubte, sie hätte Schnattergeräusche, die ähnlich wie »White Christmas« geklungen haben, gehört.
Da beides vollkommen lächerlich klang, beschlossen Helga und Heinrich, nie wieder ein Wort über diesen Abend zu verlieren und akzeptierten stillschweigend den stattlichen Gänserich, der seitdem  im Garten der Bachmanns lebte und nie einen Bräter von innen sah.

© 2014 Martina Pawlak




Martina Pawlak, schreibt seit einigen Jahren auf diversen Internetplattformen (überwiegend unter Pseudonym) Kurz- und Kindergeschichten. So entstanden im Laufe der Zeit auch zahlreiche Fabeln, von denen mittlerweile einige in einem Buch zusammengefasst und veröffentlicht wurden. Hinzu kamen weitere eBooks für Kinder. Ebenfalls wurden einige Geschichten in mehreren Anthologien aufgenommen. Besonders ins Herz geschlossen hat die Autorin allerdings das ängstliche Gespenst Paul aus der Reihe »Ein Gespenst im Flatterhemd«. Inzwischen gibt es drei Abenteuer des furchtsamen Geistes, weitere sind in Planung. Außerdem gibt es zu der Buchreihe »Ein Gespenst im Flatterhemd« eine eigene Facebook-Seite
https://www.facebook.com/pages/Ein-Gespenst-im-Flatterhemd/643146915758052?ref=hl

Die Autorin, geboren 1967, ist verheiratet und lebt mit Mann, zwei  Söhnen und einer Katze am Rande des nördlichen Ruhrgebietes,
Weitere Informationen zu den Veröffentlichungen findet man unter:
http://martinasbuecherkiste.npage.de