Donnerstag, 18. Dezember 2014

Schneeflocken Engel von Ronald Vinskis

Foto Eva Joachimsen

Die Weihnachtszeit rückte näher. Draußen war es bitter kalt. Auch fiel der erste Schnee. Monika sah vom Fenster ihres Zimmers dem Tanzen der Schneeflocken zu. Sie sah in jeder Schneeflocke, die vom Himmel fiel, einen klitzekleinen Engel, der sanft auf die Erde landete. Die meisten dieser kleinen Engelchen blieben einfach da, wo sie hingefallen waren. Doch einige fügten sich ganz eng aneinander, bis ein richtig großer Engel aus ihnen entstand. Ein Engel nach dem anderen entstand so in Monikas Tagtraum.
Oder war das gar kein Traum?
Die Engel, die entstanden waren, verteilten sich. In jedes Haus, das Monika von ihrem Fenster aus sah, verschwand einer von ihnen. Auf der gegenüberliegenden Seite, vor der Bäckerei, saß immer ein alter Mann und bettelte. Auch bei ihm blieb ein Engel, der schönste von allen, stehen. Niemand weiß so genau, wie der alte Mann in diese Lage kam, doch einige von ihnen sagten, er wäre ein sehr böser Mensch gewesen, als es ihm noch gut ging und es geschehe ihm recht so. Schließlich hatte Alois, so hieß der alte Mann, ja mal zwei Autohäuser. Und jetzt ist alles weg. Alkohol und Spielsucht hatten ihn dahin gebracht, wo er nun war.
Monika sah, dass es dem alten Mann nicht gut ging und rief ihrer Mutter in der Küche, wo diese gerade das Abendbrot zubereitete.
"Mama, Mama, komm schnell, dem Alois geht es nicht gut. Ich glaube, der braucht einen Arzt!" Monikas Mutter ließ alles stehen und liegen und kam angerannt. Sie schaute kurz aus dem Fenster, sah den alten Mann zusammengekauert an der Hauswand lehnen, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie nahm ihr Handy und lief aus dem Haus, hinüber zu Alois.
Monika sah, wie ein Engel die Autos auf der Straße langsamer fahren ließ. Engel können das. Ein anderer brachte ihre Mutter sicher über die Straße. Yvonne, so hieß Monikas Mutter, bückte sich zu dem kranken Mann hinunter, der schon ganz blau angelaufen war. Sofort rief sie einen Krankenwagen und blieb bei Alois, bis der Krankenwagen da war.
Die Sanitäter stiegen aus und brachten direkt eine Thermodecke mit. Der alte Mann war stark unterkühlt, unterernährt und hatte außerdem starke Schmerzen in der Herzgegend, was auf einen Infarkt hinwies. Da kam auch schon der Notarzt. Statt sich sofort um den Patienten zu kümmern, maulte dieser los: "Wegen so einem nutzlosen Penner, muss ich noch kurz vor Feierabend raus und das auch noch bei diesem Wetter." 
Ralf, einer der Sanitäter, kam um den Krankenwagen herum und hörte gerade noch, was hier Dr. Kraft gesagt hatte. "Herr Doktor, machen Sie Ihre Arbeit, jedes Lebewesen hat Hilfe verdient." "Halten Sie den Mund", maulte der Arzt zurück. Rolf lief kopfschüttelnd weg und dachte sich ,,wäre das Herr oder Frau Bürgermeister" hätte sich Dr. Kraft nicht so aufgespielt. Da hätte er uns Sanitäter wieder herunter geputzt. Die Sanitäter taten was wichtig und notwendig war in dieser Situation. Eben alles, um Alois sein Leben zu retten.
Eine Menge Schaulustiger standen herum und gafften auf das Geschehen. Manche gaben grässliche Kommentare von sich, wo sie besser geschwiegen hätten, wie zum Beispiel "Hoffentlich verschwindet der jetzt aus unserer Ecke, ein Schandfleck für die ganze Straße ist der doch!" und ähnliches mehr.
Bis eine ältere, gut gekleidete Dame, man sah ihr an, dass sie Geld hatte, aus deren Mitte trat und ihre Stimme erhob, "schämt ihr euch nicht? Jeder von uns kann in so eine Lage kommen, keiner von uns ist sicher, dass er das behält, was er besitzt! Nicht jeder hat aber das Glück, dass er von der Familie aufgefangen wird."
Die Menschen um das Geschehen wurden ganz still und nachdenklich. Keiner gab mehr einen Ton von sich.
"Ich selbst, so fuhr die Dame fort, war in einer ähnlichen Situation, als ich dem Alkohol verfallen war. Alkoholismus ist keine Willensschwäche, sondern eine Krankheit, die jeden treffen kann.
Ich war damals 19 Jahre alt, stand kurz vor dem Abitur, da fing alles an. Damals war ich mit Freunden unterwegs und wir tranken ein paar Gläser Sekt. Es war mein erster Kontakt mit Alkohol. Dabei merkte ich, dass ich meine Schüchternheit verlor, auf Menschen zugehen konnte und auch völlig Fremde ansprechen konnte. Mein Abi hatte ich unter Alkoholeinfluss gemacht. Später als Schauspielerin konnte ich nur mit genügend Alkohol im Blut auf der Bühne stehen und auch meinen Mann lernte ich betrunken kennen.
Nach einigen Jahren konnte ich dann ohne Alkohol nicht mehr funktionieren und bekam nicht mal mehr eine Statistenrolle, weil ich eben nur noch besoffen war und ich landete auf der Straße. Da hatten mich dann Freunde, zu denen ich längst keinen Kontakt mehr hatte, aufgelesen. Mein Leben war ruiniert. Ich hatte keine Bleibe mehr, mein Mann hat mich verlassen. Die Familie hatte sich von mir losgesagt. Ich hatte nichts mehr. Nur noch mein klägliches Leben und das, was ich am Leib trug. Einer der Freunde, die mich aufgelesen hatten, war bei den Anonymen Alkoholikern und der nahm mich mit in ein Meeting. Dort erfuhr ich erstmals, dass Alkoholismus eine Krankheit sei und dass man etwas dagegen tun kann. Nach anfänglichen kleinen und großen Rückfällen habe ich es dann doch geschafft, bis heute trocken zu bleiben. Das ist nun 30 Jahre her. Ich stehe wieder im Leben und stehe meinen Mann! Und dies geschah auch wie hier kurz vor Heiligabend. Lasst uns alle Freunde sein. Ich heiße Doris, ich bin Alkoholikerin." 
Monikas Mutter war von der Geschichte so gefesselt, dass sie nicht bemerkt hatte, dass die kleine Monika neben ihr stand und sich an ihrem Rock die Tränen aus den Augen wischte. Alle, die zugehört hatten, fühlten sich irgendwo ertappt und betroffen und so manchem Wortführer stieg die Schamesröte ins Gesicht. Einige gaben Doris die Hand und bedankten sich für so viel Ehrlichkeit. Alois war im Krankenwagen verpackt, erste Hilfe war geleistet und so wurde er ins Krankenhaus gebracht.
Doris, die gerade so schon dabei war, sagte dann noch in die Stille hinein ,,vielleicht ist unter ihnen jemand, der diesem Mann ein Obdach bieten kann oder will?!" Da kam die Frau des Bäckers an und sagte, "oben unterm Dach haben wir noch eine kleine Wohnung frei. Da haben früher unsere Lehrlinge gewohnt. Heute wollen die das nicht mehr. So kann Alois die Wohnung haben, wenn er möchte."
"Das ist ein Wort, Frau Brandstätter." Und so geschah es, das zur Weihnachtszeit aus großem Leid großes Glück wurde. Alois hat es geschafft trocken zu werden, fand auch wieder Arbeit und vor allem viele, viele Freunde.
So plötzlich, wie Doris an jenem Tag aus der Menge aufgetaucht war, so plötzlich war sie wieder verschwunden.
                   W A R   S I E    E  I N   E N G E L? 


©Ronald Vinskis