Samstag, 13. Dezember 2014

Weihnachten ist ... von Eva Markert

Foto Annette Paul
Ingrid liebte diese besondere, feierliche Atmosphäre, die man nur in der Heiligen Nacht verspüren kann. Für Verwandtenbesuche waren der erste und zweite Weihnachtstag da. Den Weihnachtsabend hingegen verbrachte sie am liebsten allein.
Auch dieses Jahr hatte sie für einen gemütlichen, ruhigen Abend vorgesorgt: Die Portweinflasche war geöffnet, der Weihnachtsteller mit den selbstgebackenen Plätzchen stand bereit. Auf dem Tisch neben dem Engelrondell lag ein hübsch verpacktes Geschenk, das sie sich selbst gemacht hatte. Im Hintergrund lief die CD mit stimmungsvollen, alten Weihnachtsliedern. Morgen, Kinder, wird’s was geben, sang der Chor gerade und Ingrid empfand eine beinahe kindliche Vorfreude.
Kling Glöckchen, klingelingeling. Es war schon fast dunkel, ihr Fest konnte beginnen. Sie musste nur noch die Kerzen auf dem Engelrondell entzünden.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass keine in den Haltern steckten. Ach ja, die hatte sie am vierten Advent abgebrannt. Ingrid trat an den Schrank, um neue herauszuholen – und runzelte die Stirn. Die Stelle, wo die Schachtel gewöhnlich lag, war leer. Ein heißer Schreck durchfuhr sie. Alle Kerzen waren aufgebraucht, und sie hatte keine neuen besorgt!
Sind die Lichter angezündet, sangen helle Kinderstimmen, Freude zieht in jeden Raum. „So schnell gebe ich nicht auf“, dachte Ingrid und begann zu suchen. Irgendwo mussten doch ein paar Kerzen herumliegen! Sie schaute in jede Schublade, suchte auf den Regalen in der Vorratskammer. Schließlich ging sie sogar in den Keller und wühlte in den Kartons, in denen sie Weihnachtsschmuck aufbewahrte. Vergeblich. Sie musste der Tatsache ins Auge sehen: Es war Heiligabend, und sie hatte nicht eine einzige Kerze im Haus.
Niedergeschlagen stieg Ingrid die Treppen wieder hinauf. Aus den Wohnungen, an denen sie vorbeikam, drangen fröhliche Stimmen und Kindergeschrei. Sie war davon überzeugt: Es gab niemanden im Haus, der nicht gerade beim Schein echter oder elektrischer Kerzen Weihnachten feierte. Kurz erwog sie, bei Nachbarn zu klingeln und um Kerzen zu bitten, doch sie entschloss sich dagegen. Sie wollte nicht stören, indem sie in eine Familienfeier hineinplatzte. Womöglich würde man sich noch verpflichtet fühlen, sie hereinzubitten.
Aufseufzend trat sie in ihren Flur, der von der Deckenlampe erhellt wurde. Richtig grell erschien ihr das Licht. Es ist für uns eine Zeit angekommen, klang es von der CD. „Für mich nicht“, dachte Ingrid bitter. „Weihnachten ohne Kerzen ist kein Weihnachten.“
Sie ging ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Es war eine klare, klirrend kalte Nacht, Eiskristalle glitzerten im Licht de Straßenlaternen auf dem Asphalt. In vielen Vorgärten waren Tannen reichlich mit Kerzen bestückt. In den Wohnzimmern konnte man Christbäume mit brennenden Kerzen erkennen. Lichterbögen standen in Fenstern, Laternen leuchteten vor Haustüren. Kerzen, Kerzen – wohin man auch blickte! Ingrid liebte echte Kerzen und das warme, stimmungsvolle Licht, das sie verbreiteten. Jetzt wünschte sie, sie hätte wenigstens ein paar LED-Kerzen zur Hand.
Süßer die Glocken nie klingen, schallte es durch den Raum, als zu der Weihnachtszeit. „Das mag ja sein“, dachte Ingrid. „Aber Weihnachten beim Licht von Stehlampen ist nun mal kein Weihnachten. Daran kann auch der süßeste Glockenklang nichts ändern.“
„Reiß dich zusammen!“, befahl sie sich selbst. „Du hast in deinem Leben so viele schöne Weihnachtsfeste feiern dürfen, dass du dich nicht beklagen kannst, wenn mal eins ins Wasser fällt, zumal du selbst daran schuld bist.“
Andererseits – wie viele Weihnachtsfeste hatte sie noch? Wie zum Hohn wurde gerade Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen auf der CD gespielt. Es fehlte nicht mehr viel, und sie würde melancholisch werden.
Als Nächstes schmetterte ein Kinderchor O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter. Um sich selbst ein wenig Mut zu machen, summte Ingrid die Melodie mit. Ihr fiel auf, dass in dem gesamten Lied keine einzige Kerze vorkam.
Leise rieselt der Schnee. Ingrid sang verhalten mit. Auch in diesem Weihnachtslied wurden Kerzen nicht erwähnt. Ihre Stimmung stieg ein wenig.
Bei Vom Himmel hoch, o Englein, kommt schaltete Ingrid die Stehlampe ein und beäugte ihren Weihnachtstisch. Sollte sie mit dem Fest weitermachen wie geplant und sich das Kerzenlicht einfach dazu denken? Aber irgendwie sagte ihr das nicht wirklich zu.
Sie horchte auf, als das folgende Lied auf der CD angestimmt wurde: Fröhliche Weihnacht überall, tönet durch die Lüfte froher Schall. Dieses Lied mochte sie besonders, es hatte eine so freudige Melodie. Weihnachtston, Weihnachtsbaum ... Sie sang lauthals mit. Bei Weihnachtsduft in jedem Raum stockte sie.
In jedem Raum ...
Wer sagte eigentlich, dass man im Wohnzimmer Weihnachten zu feiern hatte? Und dass man dabei angezogen sein und bei Kerzenlicht an einem Tisch sitzen musste?
Entschlossen holte Ingrid den Servierwagen aus der Küche, stellte Portwein und Plätzchen darauf, legte auch das Geschenk dazu und rollte alles ins Schlafzimmer. Dort schlüpfte sie in ihren mollig weichen Pyjama und stieg ins Bett.
Die Nachttischlampe verbreitete ein heimeliges Licht. Ingrid nahm einen Schluck Portwein, dann packte sie den E-Reader aus, den sie sich selbst zu Weihnachten schenkte. Sie kuschelte sich in ihre Daunenkissen und begann in dem Buch mit weihnachtlichen Texten zu lesen, das sie sich ausgesucht und heruntergeladen hatte, als der Reader geliefert wurde.
Die Weihnachtsgeschichten gefielen ihr. Zwischendurch nippte sie an ihrem Wein und knabberte Plätzchen.
Die Zeit verging wie im Flug. Es war schon fast Mitternacht, als sie den Reader sinken ließ. Wohlig streckte sie die Glieder, löschte das Licht und zog die Decke höher. Ja, es war ein herrlicher Heiligabend gewesen. Anders zwar und ungewöhnlich, aber dennoch wunderschön.
Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war: „Weihnachten ist, wenn man es weihnachten lässt.“

Vita:
Eva Markert lebt in Ratingen bei Düsseldorf. Von Beruf ist sie Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch. Außerdem besitzt sie ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache und ist staatlich geprüfte Übersetzerin. In ihrer Freizeit arbeitete sie viele Jahre als Lektorin und Korrektorin in einem kleinen Verlag mit.
Zahlreiche Kurzgeschichten und Kindergeschichten von Eva Markert wurden in verschiedenen Hör- und Printmedien veröffentlicht. Ihre weihnachtlichen Kinderbücher „Adventskalender zum Lesen und Vorlesen“ und „Ein ganz besonderer Adventskalender“ erschienen im Dr. Ronald Henss Verlag. Weitere Kinder- und Jugendbücher sowie Romane und Kurzgeschichtensammlungen für Erwachsene sind bei Amazon und anderen Händlern erhältlich.

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