Dienstag, 22. Dezember 2015

24 Weihnachtstage von Ramona Stolle





Christa, das Christusmädchen

Lena und Marie saßen auf dem Sofa und starrten Löcher in die Luft. Eigentlich war alles perfekt. Das Zimmer war geschmückt mit Tannenzweigen und Kerzen. Auf dem Tisch stand der Teller mit Zimtgebäck und Vanillekipferl. Eine bunte Lichterkette blinkte im Fenster. Der Weihnachtsbaum strahlte festlich und trug einen goldenen Stern auf seiner Spitze. Es duftete nach Lebkuchen und Sandelholz. Und doch gab es ein Problem.
„Fällt Weihnachten jetzt aus?“, fragte Lena mit einem Gurgeln in der Stimme. „Ohne Papa und Mama können wir doch nicht richtig fröhlich sein.“ Sie zupfte traurig an ihren blonden Locken herum.
„Quatsch, auf keinen Fall“, tröstete Marie ihre kleine Schwester, „außerdem sind Oma und Opa gleich da. Mit den beiden kann man schon prima feiern.“
Nun liefen die Tränen über Lenas Gesicht. Weihnachten ohne Mama und Papa konnte sie sich nicht vorstellen, obwohl sie Oma und Opa natürlich auch sehr gerne hatte.
„Nicht weinen, Lenchen“, Marie nahm ihre kleine Schwester in den Arm, „vielleicht ist das Baby ja schon in der nächsten Stunde auf der Welt. Mama und Papa kommen dann auch bald nach Hause.“
Da ertönte Omas fröhliche Stimme im Flur. Die Mädchen sprangen auf und rannten zu ihr. Opa war noch im Treppenhaus. Er musste zwei große Taschen tragen, die er zwischendurch absetzte, um zu verschnaufen. Doch wenige Augenblicke später war auch er in der Wohnung. Die beiden sahen sofort, dass Lena ganz verweinte Augen hatte, und Marie erzählte von der Angst, dass der Weihnachtsabend ausfallen könnte.
„Weihnachten ausfallen“, lachte die Oma, „niemals Kinder. Jetzt sind wir bei euch. Eure Eltern kommen so schnell wie möglich mit einem Geschwisterchen zurück.“
Lena beruhigte sich schnell, denn sie fühlte sich bei Oma und Opa geborgen und nicht mehr so einsam. Marie lief ins Wohnzimmer und suchte eine CD mit Weihnachtsmusik. Während nun ganz laut Omas Lieblingslied ‚Lasst uns froh und munter sein‘ ertönte, ging sie in die Küche und begann damit, ein herrliches Weihnachtsessen zu brutzeln. Opa bestaunte den Weihnachtsbaum.
„Die Kugeln da unten habe ich dran gehängt“, erzählte Lena ihm stolz und zeigte auf Goldkugeln, die eindeutig Schokoladenflecken hatten. Nun waren die beiden Mädchen doch zufrieden, dass sie einen so wichtigen Abend nicht allein verbringen mussten.
„Das ist aber auch so eine Sache mit den Babys. Man weiß nie genau, wann sie auf die Welt kommen“, sagte der Opa. Er blickte zur Uhr, die an der Wand neben der Tür hing. „Auf eure Mama haben wir damals sehr lange gewartet. So hatte ich wenigstens genug Zeit, um von der Arbeit schnell ins Krankenhaus zu fahren.“ 
Oma und Marie kamen ins Zimmer und trugen das Geschirr für das Weihnachtsessen herein. Lena lief sofort zu ihnen und begann dabei zu helfen, Servietten und Besteck auf dem Tisch zu verteilen. 
„Hör mal Lena, jetzt spielt dein Lieblingslied“, freute sich Marie. Alle lauschten aufmerksam und begannen dann mitzusingen. ‚Ihr Kinderlein kommet‘ schallte es laut, während im Flur das Telefon klingelte. Maria und Josef hatten ihrem Baby ein Bett aus Heu und aus Stroh gebaut, und Marie fragte sich, ob das nicht furchtbar gepikst hat. Jetzt hörten sie das Telefon. Marie war die Schnellste und hob den Hörer ab.
„Marie Menge, hallo!“, schrie sie. „Papa, Papa! Alles supi bei euch? Cool! Und wann? Toll! Ja, mach‘ ich! Bis gleich!“
Oma drängelte, weil sie auch an den Hörer wollte, aber ehe sie sich versah, hatte Marie aufgelegt.
„Sie kommen nach Hause!“, juchzte sie.
„So schnell?“ Opa war sichtlich erstaunt. „Was für eine Zeit!  Alles muss heute schnell gehen. Selbst die Babys kommen wie im Schnelldurchlauf.“
Nun wollten Oma, Opa und Lena natürlich wissen, was der Vater alles erzählt hatte. Marie konnte aber gar nicht so viel erzählen, denn das Telefonat hatte doch nur ein paar Minuten gedauert.
„Papa war ja ganz aufgeregt“, sagte Marie wie zu ihrer Entschuldigung, „da hat er nicht viel gesagt.“
„Warum hast du nicht mehr gefragt?“, nörgelte Lena, „Wie geht es Mama? Bringen sie das Baby mit?“
„Natürlich, Liebes“, mischte sich jetzt die Oma ein, „natürlich bringen sie das Baby mit! Was ist es denn eigentlich? Ein Junge oder ein Mädchen?“
„Was für eine Frage? War das wichtig?“, dachte sich Marie, doch dann sah sie verlegen auf den Boden.
„Ich hab‘ vergessen, danach zu fragen“,  flüsterte sie.
„Was!“, kreischte Lena. „Du weißt nicht, ob wir einen Bruder oder eine Schwester haben?“
„Ist doch egal“, antwortete Marie und schob Lena beiseite, um ins Wohnzimmer zurückzugehen. Dort trällerte gerade ein Kinderchor ‚Oh du fröhliche‘, und Marie sang einfach mit, damit sie keine weiteren Fragen beantworten musste.
„Egal“, wiederholte Lena fassungslos. Sie war ganz anderer Meinung. Was sollte wichtiger sein, als zu erfahren, ob sie demnächst ihre Puppen gegen eine neue Schwester verteidigen musste. Zum Glück war Marie schon so groß, dass sie vor einiger Zeit aufgehört hatte, mit Puppen zu spielen. Eine neue Schwester könnte da doch wieder Ärger und Aufregung bedeuten. Ein Bruder würde Lena besser gefallen.
„Wir werden es früh genug erfahren“, schmunzelte die Oma, die sich schon denken konnte, welche Bedenken Lena hatte. „Ich schlage vor, wir warten mit dem Weihnachtsbraten noch etwas.“
Mit der Zeit war das schon eine komische Sache. Manchmal, wenn man etwas Schönes machte, dann verging  sie wie im Flug. Wartete man aber auf etwas, dann krabbelte der Zeiger der Uhr im Zeitlupentempo. Lena wurde langweilig, und immer nur Lieder singen, machte auch keinen Spaß.
„Ich werde eine Krippe für meinen kleinen Bruder bauen“, sagte sie plötzlich, sprang auf und lief in ihr Zimmer.
„Na, das kann ja lustig werden“, prustete der Opa, „vielleicht haben wir ja gleich einen Esel und eine Kuh im Zimmer stehen!“
Oma und Marie sahen sich mit großen Augen fragend an. Dann wurden sie doch neugierig darauf, was sich die kleine Lena diesmal einfallen ließ. Die wirbelte nämlich mit ihren blonden Locken voller Eifer durch die Wohnung und platzierte zunächst ihren Puppenwagen vor den Weihnachtsbaum. Gleich darauf rumpelte es im Flur, und schon wurde ein hölzernes Schaukelpferd ins Zimmer geschoben. Das Tier war so groß, dass es Lena doch Mühe bereitete, es zu transportieren.
„Einen Esel habe ich nicht! Geht auch ein Pferd?“, fragend blickte sie ihre Großeltern an. Beide nickten.
„Klar“, sagte Marie, „das Christuskind ist ja noch ein Baby. Das weiß doch noch nicht, was ein Esel und was ein Pferd ist.“
„Du denkst wohl, das Christuskind kennt keinen Esel“, rief Lena empört, „aber da irrst du dich. Der kleine Christus mag alle Tiere, darum darf da auch ein Pferd stehen, wenn grad kein Esel da ist.“
„Nun ist aber genug“, unterbrach die Oma, „wir wollen doch fröhliche Weihnachten feiern, wenn das Baby kommt. Bau du nur weiter an deiner Krippe, und Marie würdest du mir in der Küche helfen?“
„Na gut“, nörgelte Marie, „aber ich bin gespannt, wie du guckst, wenn dein Christuskind gar kein Junge ist.“ Dann verschwand sie mit der Oma im Flur. Lena und Opa saßen vor dem Weihnachtsbaum und sahen sich die Krippe an.
„Weißt du, Lena, da fehlen aber nicht nur einige Tiere im Stall, sondern auch die Heiligen Drei Könige.“ Der Opa schnaufte und zupfte sich nachdenklich am Ohr.
„Ich hol‘ noch schnell meine Lieblingspuppen“, rief Lena, „dann ist das schon alles in Ordnung!“
Zum Schluss setzte das Mädchen noch ihren Stoffhund, stellvertretend für die Kuh, neben das Pferd, und fertig war das Krippenspiel.
Es klingelte, und Oma, Opa, Lena und Marie rannten zur Tür. Jeder wollte der Erste sein, der das Baby begrüßte.
„Hallo, da sind wir wieder“, begrüßte der Vater seine Familie, doch schnell merkte er, dass sich alles nur um das weiße Bündel drehte, das die Mutter im Arm hielt. Lena stürmte zu ihrer Mutter und zog sie zu sich herunter.
„Mama, Mama“, freute sie sich und konnte einen kurzen Blick auf das Christuskind erhaschen, „komm schnell, ich habe etwas gebaut.“
Alle schmunzelten. Oma umarmte Marie, und Opa und Papa sahen zur Krippe hinüber.
„Sieh nur, da kann das Baby Weihnachten mit uns feiern.“ Lena zeigte auf ihren Puppenwagen vor dem ein Schaukelpferd stand. Mama nahm etwas winzig Kleines aus einer weißen Decke und legte es dort hinein. Sofort kam nun auch Marie und wollte sich das Baby ansehen. Oma und Opa wollten auch gucken.
„Das ist wirklich ein wunderschönes Christkind“, flüsterte Oma, „wie soll es denn heißen?“
„Aber Oma“, mischte sich Lena vorwurfsvoll ein, „es muss doch Christus heißen.“
„Tja weißt du, kleine Lena“, Mama zog die Augenbrauen hoch und legte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter, „es gibt da ein Problem.“
Das Baby bewegte sich, und alle starrten in den Puppenwagen.
„Ist Christus krank?“, fragte Lena.
„Schwesterherz“, mischte sich jetzt Marie ein, „wenn du weiter so einen Schnick Schnack redest, fällt Weihnachten doch noch aus.“
Papa kam dazu und nahm Lena ganz fest in den Arm.
„Was hat er denn?“, fragte sie nochmal energisch.
„Er“, schmunzelte Papa, „er ist eine Sie! Christus ist ein Mädchen!“
Keiner konnte sich das Lachen verkneifen, aber alle versuchten möglichst leise dabei zu sein, um das Baby nicht aufzuwecken.
„Das ist doch ganz egal“, antwortete Lena ein bisschen schnippisch, „meinst du denn, das weiß ich nicht. Wer will schon einen Bruder?“
Weihnachten fiel natürlich nicht aus, sondern es wurde ein ganz, ganz besonders schönes Fest. Omas Festessen schmeckte köstlich, der Weihnachtsbaum strahlte in voller Pracht, und Mama saß zwischen ihren beiden großen Mädchen und sah so glücklich aus. Natürlich gab es auch Geschenke, sodass einige Zeit später ein bunter Berg Papier und Schleifen auf dem Boden lagen. Das schönste Geschenk an diesem Abend jedoch lag in einem Puppenwagen und schlief friedlich, bewacht von einem Schaukelpferd, einem Stoffhund und drei Puppen.
„Ach, weißt du, das mit dem Namen ist nicht so schlimm“, sagte Lena zu ihrer Mama, „denn es gibt ja schon ein Christuskind, das Christus heißt. Wir haben eben ein Christusmädchen, das können wir Christa rufen. Das hört sich auch sehr schön an.“


Klappentext

24 Weihnachtstage können ganz schön lang erscheinen, drum verkürzen wir die Stunden mit des Dichters schönsten Reimen.
Jeden Tag ein neues Stück zart bestäubt mit Weihnachtsglück.
Sternenstaub und Engelszauber führen dich durch diese Zeit, Kerzenschein und Tannenbäume zeigen sich im Festtagskleid.
Schnell noch eine Prise Zimt, damit das Aroma stimmt.
Und hast du sie dann verschlungen all die Reime und Geschichten, ist die Weihnacht angekommen mit viel Glanz und mit Gedichten.
Ob Christkind oder Weihnachtsmann, fangt schnell mit der Bescherung an!


Das Buch ist im Re-Di-Roma Verlag erschienen und über den Buchhandel und bei Amazon bestellbar.

Ramona Stolle schreibt und dichtet für junge und junggebliebene Leserinnen und Leser. Ihre Kindergeschichten sind in mehr als dreißig Anthologien vertreten.
Da die Weihnachtszeit mit Lichterglanz und Sternenschein für sie die schönste Zeit des Jahres ist, ist es auch nicht verwunderlich, dass ihr erstes Buch „24 Weihnachtstage“ eben genau in dieser magischen Winter-Wunder-Weihnachts-Welt spielt.
Wer mehr über die Autorin und ihre Bücher erfahren möchte, kann das unter www.ramonastolle.de.to