Mittwoch, 23. Dezember 2015

Ein unerfahrener Weihnachtsmann von Eva Joachimsen






Foto von Eva Joachimsen


Es klingelte. Dani stürzte zur Tür. Vor lauter Eifer stolperte er und schlug mit dem Kopf gegen den Schrank. Weinend blieb er liegen. Miriam erreichte ihn als erste und hob ihn hoch. Um ihn zu trösten, pustete sie kräftig auf seine Stirn. Als es erneut an der Tür klingelte, vergaß er die Schmerzen, sprang von ihrem Schoß und hüpfte zur Tür.
„Der Weihnachtsmann, der Weihnachtsmann“, sang er.
Doch nachdem er die Tür aufgerissen hatte und direkt vor dem großen Mann im roten Umhang und dem langen, weißen Bart stand, verkroch er sich lieber hinter dem Rücken seiner großen Halbschwester.
„Kommen Sie bitte herein“, forderte Miriam ihn auf.
Ihre Mutter stand in der Wohnzimmertür und nickte dem jungen Mann, den sie angeheuert hatte, aufmunternd zu.
„Guten Abend, hier soll Daniel wohnen“, dröhnte der Mann im tiefsten Bass, nur beim Wort wohnen verrutschte die Stimme etwas.
Miriam unterdrückte ein Lachen. Sie gluckste etwas. Und als sie dem Weihnachtsmann in die Augen sah, war es um ihre und seine Beherrschung geschehen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und stürzte ins Badezimmer.
Dani stand jetzt ohne Deckung da und verzog sein Gesicht, während der Weihnachtsmann um Fassung rang und nicht sprechen konnte. Er hob seinen Sack vom Rücken und nestelte daran herum.
Mutter schlängelte sich am Weihnachtsmann vorbei zu Dani und nahm ihn an die Hand, bevor er zu weinen anfing.
„Gehen Sie schon einmal voraus“, bat sie den Weihnachtsmann.
Dani folgte nur zögernd mit etwas größerem Abstand ins Wohnzimmer. Der Weihnachtsmann nickte Vater zu und stellte sich dann vor dem großen, mit roten Schleifen, roten Glaskugeln und roten Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum.
Miriam hatte sich inzwischen erholt und erschien in der Wohnzimmertür. Vorsichtshalber blieb sie dort stehen und versuchte, den Blickkontakt zu vermeiden.
„Kennst du denn ein Gedicht?“, fragte der Weihnachtsmann.
Statt einer Antwort schob Dani den Daumen in den Mund. Mutter zog ihn heraus. „Du konntest es doch so gut.“
„Lieber guter Weihnachtsmann“, flüsterte Miriam.
Dani drehte sich um und schaute sie an.
„Du sollst es aufsagen“, forderte Miriam ihn auf.
Aber statt das Gedicht aufzusagen, flüchtete Dani in ihre Arme. Sie stand schließlich viel weiter vom Weihnachtsmann entfernt als seine Mutter.
Miriam legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte mit ihm gemeinsam das Gedicht auf. Dabei schwankte ihre Stimme gefährlich und Dani sprach so leise, dass er kaum zu hören war.
Der Weihnachtsmann verkroch sich immer tiefer in seinen Umhang, auf seiner Nase glänzte Schweiß.
„Warst du auch immer artig?“, fragte er den Kleinen.
Dani nickte eifrig.
„Dann habe ich etwas für dich.“ Der Weihnachtsmann tauchte tief in seinen Sack hinein und zog ein Päckchen für Dani heraus.
Doch Dani rührte sich nicht von der Stelle. Hilflos stand der Weihnachtsmann mit dem Päckchen da und schaute sich suchend um.
Mutter und Stiefvater rührten sich nicht. Auf Mutters Stirn hatte sich wieder einmal diese tiefe Falte gebildet. Armer Dani. Miriam schaute unschlüssig von einem zum anderen. Schließlich erbarmte sie sich und nahm dem Weihnachtsmann das Geschenk ab.
„Wollen wir es gemeinsam auspacken?“, fragte sie Dani. Aber erst als sie das Geschenkband entfernt und den Klebestreifen an den Seiten gelöst hatte, riss Dani ihr das Päckchen aus der Hand und zerfetzte das Papier. Eine Packung Bausteine kam zum Vorschein.
Danach bekam Dani noch zwei weitere Päckchen, die der Weihnachtsmann sicherheitshalber auf den Couchtisch legte. Und auch Miriam erhielt zwei Geschenke, ebenso ihre Eltern.
Inzwischen fing der Bart an zu rutschen und die Nase glänzte immer stärker.
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte Miriam. „Sie haben so einen weiten Weg vor sich.“
„Es geht“, sagte er und erntet einen strafenden Blick von Mutter.
„Bei den meisten Kindern war ich schon“, verbesserte er sich schnell.
„Und die Kinder in Afrika?“, fragte Dani.
„Da ist eine andere Uhrzeit, da war ich schon“, erfand der Weihnachtsmann. „Hier in Neustadt bin ich immer erst zum Schluss.“
Miriam wartete seine Antwort nicht ab, sondern holte eine Flasche Bier aus der Küche und schenkte ihm ein Glas ein.
„Wenn Sie fast Feierabend haben, dürfen Sie sicher ein Bier trinken.“
Ihre Mutter sah sie strafend an. Aber Miriam kümmerte sich nicht darum. Sie fand den Weihnachtsmann einfach süß. „Alkohol im Renntiergespann ist doch sicher erlaubt.“ Ihre Augen funkelten mutwillig.
„Die Tiere finden den Heimweg alleine und so viel Verkehr gibt es bei uns in Lappland nicht.“
„Gibt es bei euch Autos?“, fragte Dani und schaute von seinem Bauwerk hoch.
„Nein, nur ein paar Renntier- und Eselgespanne, die die Wichtel lenken“, erfand der Weihnachtsmann. Er nahm das Glas dankend aus Miriams Hand und versuchte zu trinken. Dabei tauchte der Bart in das Glas und löste sich noch mehr ab.
„Sie sollten es lieber lassen“, sagte Mutter scharf und reichte ihm die Hand. „Frohe Weihnachten und eine gute Heimreise“, wünschte sie.
Der Weihnachtsmann verabschiedete sich.
„Ich begleite Sie hinaus“, bot Miriam an. Sie schnappte sich den Wohnungsschlüssel, was den anderen gar nicht auffiel, da sie mit Dani und seinem Bauwerk beschäftigt waren und zog die Wohnungstür hinter sich zu.
„Kann ich dich wiedersehen? Wie heißt du?“, fragte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Florian. Hast du am 27. Zeit? Dann könnten wir in die Disko gehen.“ Er zog seinen Bart herunter und beugte sich über sie.
Sie bemerkten nicht, wie die Tür aufging.
„Miriam, kommt du? Aber Miriam!“, hörte sie die schrille Stimme ihrer Mutter.



© Eva Joachimsen
Eva Joachimsen liebt lesen, schreiben und tanzen. Seit vielen Jahren veröffentlicht sie Kurzgeschichten in Zeitschriften. Mehr von ihr erfährt man auf ihrem Blog. Ein Überblick über ihre Bücher gibt es hier.