Dienstag, 8. Dezember 2015

Lisa und die Wölfin von Rita Hajak


Foto von Rita Haja,

Am 1.Weihnachtsfeiertag fuhr die achtjährige Lisa mit ihren Eltern ins Erzgebirge. Ihre Großmutter Martha lebte dort in Neuhausen, in einem Bloghaus am Wald. Die einzigen Menschen, die in der Nähe wohnten, waren Rudolf und seine Frau. Sie besaßen ein Handy und ein Geländefahrzeug mit Allradantrieb. Es konnte auch im tiefsten Schnee fahren. Wenn Oma Martha Hilfe brauchte, waren sie zur Stelle.
   Der Tisch war bereits liebevoll gedeckt, Kaffee, Kuchen und Tee standen bereit. Großmutter zündete die Kerzen an, im Kaminofen knisterte ein behagliches Feuer. Die Weihnachtsgans in der Backröhre verströmte einen genüsslichen Duft.
   »Du verstehst es immer wieder eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen«, sagte Lisas Mutter.
   Die Großmutter schaute ihrer Schwiegertochter wohlwollend zu. »Ich bin überglücklich, dass ihr hier seid.«
   Lisa mischte sich ein. »Du kannst doch jederzeit zu uns kommen«, Omi.
   »Ach Kind, du weißt, dass ich am liebsten in meiner heimischen Umgebung bin.«
   Lisa nickte. Nachdem Großvater gestorben war, wollte die Großmutter ihre kleine Welt nicht mehr verlassen.
   »Ich hoffe, es macht euch nichts aus, dass ich die Nachbarn eingeladen habe?«, sagte Großmutter. »Sie sind auch alleine.«
   In diesem Moment klingelte es. Rudolf und seine Frau traten ein. Sie brachten einen Kuchen und kleine Geschenke mit. Es wurde gescherzt und gelacht und Lisa war glücklich und zufrieden.

Am nächsten Tag reisten die Eltern ab und versprachen an Silvester wieder da zu sein. Für Lisa war es ein besonderes Vergnügen, die Tage bis dahin, bei ihrer Großmutter zu verbringen.
   Die Geschichten, die sie zu erzählen wusste, waren so spannend, dass Lisa nie genug davon hören konnte. Am liebsten mochte sie die von den Wölfen. Es hieß, sie seien ausgestorben. Aber Großmutter meinte, das sei Unsinn. Die Tiere würden sich nur versteckt halten.
   Lisa half ihrer Großmutter das Abendbrot zu richten und gähnte nach dem Essen herzhaft. Bald darauf ging sie zu Bett. Sie träumte wirres Zeug und wachte mehrmals in der Nacht auf. Von weit her hörte sie das Heulen eines Wolfes.

In der Nacht hatte es erneut geschneit. Die Feiertage waren zu Ende und der Kühlschrank leer. Rudolf und seine Frau holten die Großmutter mit dem Jeep ab. Bevor noch mehr Schnee fallen würde, wollten sie zum Einkaufen in die Stadt. Lisa hatte keine Lust mitzufahren.
   »Wenn du nicht willst, dann bleib im Haus. Gehe bitte, solange ich weg bin, nicht vor die Tür«, sagte die Großmutter und drückte ihre Enkelin zum Abschied an sich. Vom Fenster aus winkte ihnen das Mädchen hinterher. Sie sah, wie sie die Hauptstraße hinunterfuhren. Es konnte einige Zeit dauern, bis sie zurückkommen würden.
   Gelangweilt sah Lisa aus dem kleinen Wohnzimmerfenster. Der Himmel sah grau und düster aus. Sie wollte sich abwenden, als sie erstarrte. Wenige Meter von der Hütte entfernt, sah sie ihn. Einen grauen Wolf. Er blickte ihr mit zusammengekniffenen Augen ins Gesicht, verharrte einige Sekunden, und lief in den Wald zurück. Verwundert wandte sich Lisa vom Fenster ab. Sie setzte sich in Großmutters Ohrensessel und schlummerte ein.

Es schneite, als wollte es niemals wieder aufhören. Lisa wurde unruhig. Ihre Großmutter war noch nicht zurückgekehrt. Die Schneeflocken tanzten so dicht, dass man kaum durchsehen konnte. Sie öffnete die Haustür und trat einen Schritt hinaus. Es war sehr kalt. Alles war zugeschneit, und von der Straße war nichts mehr zu sehen. Plötzlich hörte Lisa einen lauten Knall. Sie wusste sofort, was geschehen war und fing an zu zittern. Nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Die Tür war zugefallen und sie stand in ihren Fellpantöffelchen, einer Wollhose und einer dünnen Jacke bekleidet im Schneesturm. Ein heftiger Wind jagte pfeifend um das Haus. Großmutter hatte sie gewarnt. Wo sollte sie jetzt hin? In der Siedlung war keine Menschenseele.
   Eine eisige Kälte kroch an dem armen Kind hoch. Die Pantoffeln waren durchnässt, und ihre Füße steckten wie Eisklumpen in ihnen fest. Mit verweinten Augen blickte Lisa immer wieder in die Richtung, wo sie die Straße vermutete. Sie hoffte, der Jeep würde endlich heraufgebraust kommen. Sie konnte kaum noch stehen und sackte, steif wie ein Eiszapfen, in die Knie. Bevor sie vollkommen im Schnee lag, sah sie noch einen grauen Wolf aus dem Wald gelaufen kommen. Das Mädchen dachte entsetzt, dass sie entweder erfrieren oder gefressen würde.
   Auf einmal spürte sie einen warmen Körper über sich, der sich sacht auf sie legte. Es war der graue Wolf. Sein Atem stieg in ihre Nase, und sie blickte mit letzter Kraft auf. Lisa empfand plötzlich Wohlbehagen. Die Augen des Tieres, die wie Gletschereis leuchteten, blickten sie gütig an.
   Schauriges Wolfsgeheul durchdrang die Stille. Der »Graue Wolf« heulte zum Erbarmen, und zu ihrem Entsetzen sah sie ein Rudel Wölfe aus dem Wald gestürmt kommen. Was sollte das bedeuten? Hatte er sie zum gemeinsamen Fressen hergerufen? Ist das jetzt mein Ende?, dachte sie erschöpft. Sie konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass die anderen Tiere sich um den »Grauen« herum niederließen. Als sich einer der Wölfe Lisa nähern wollte, fletschte der »Graue« die Zähne und hielt ihn zurück. Er schien das Leittier des Rudels zu sein. Er gab ihnen Zeichen durch Knurren und feines Bellen. Die Wölfe kamen näher und schnappten vorsichtig mit ihrem Maul nach Lisas Kleidung. Sie zogen sie langsam durch den Schnee in den tiefen Wald hinein. Vor Angst wurde sie bewusstlos.

Als Lisa erwachte, war es dunkel. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Finsternis. Sie lag auf einem weichen Lager aus Blättern und getrocknetem Gras.
   Der graue Wolf saß vor ihrer Schlafstelle und schaute sie mit funkelnden Augen an, was ihr Angst machte.
   »Du brauchst keine Furcht zu haben. Hier in meiner Höhle bist du in Sicherheit. Draußen im Schnee wärest du erfroren, das wollte ich verhindern. Übrigens, ich bin kein Wolf, sondern eine Wölfin«, sagte das Tier, denn es konnte Lisas Gedanken lesen.
   »Du kannst sprechen?«, fragte das Mädchen erstaunt.
   »Ja. Es gibt so viel, von dem die Menschen keine Ahnung haben, und das ist gut so. Du bleibst erst einmal hier, und wenn das Schneetreiben nachgelassen hat, und deine Großmutter wieder aus der Stadt zurück ist, bringen wir dich wieder nach Hause.«
   »Ich kann es kaum glauben«, murmelte Lisa.
   Die Nacht war fast vorüber, als Lisa ein merkwürdiges Wimmern hörte, das aus der hinteren Ecke der Höhle drang. Es war nicht vollkommen dunkel, denn der Lichtschein des Mondes lugte durch den Höhleneingang. Sie stand von ihrem Lager auf und ging diesem Geräusch nach. Staunend schaute sie auf die kleinen Wolfswelpen, die gierig ihre Mäuler öffneten. In diesem Moment schlüpfte die Wölfin herein und brachte ihren Jungen einen Brocken Fleisch. Im Nu war die Nahrung verzehrt.
   Erst jetzt wagte Lisa, die Wölfin anzusprechen. »Die sind niedlich, wie alt sind sie denn?«
   »Inzwischen sind sie acht Wochen alt. Das Säugen werde ich langsam einstellen. Sie müssen lernen, lebendes Wild selbst zu reißen«, erklärte die Wolfsmutter mit stolzem Blick.

Die Zeit verging, und Lisa hatte das Gefühl schon ewig hier zu sein. Zum Essen brachte ihr die Wölfin getrocknete Pilze und Beeren. Nachts gingen die Tiere auf Futtersuche. Von weit her hörte man sie heulen.
   Die Wölfin hatte ständig ein Auge auf Lisa, um sie vor den anderen Wölfen zu schützen. Mit den jungen Wölfen tobte das Mädchen im Schnee, als wäre sie ihresgleichen.
   Die morgendliche Dämmerung kroch heran. Die Wölfe waren noch nicht zurück. Lisa hatte Angst. Für jedes Raubtier wäre sie ein leckerer Happen. Sie kroch aus der Höhle und sah sich um. Nichts war zu hören und zu sehen. Sie rief mehrmals nach der Wölfin, die sie »Nasti« genannt hatte, aber sie erhielt keine Antwort. Als sie in die Höhle zurückschlüpfen wollte, sah sie den Wolf.  Lisa erkannte sofort, dass er nicht zu Nastis Rudel gehörte. Sein Fell war grau mit weißen Flecken. Da stand er, starrte sie mit gierigem Blick zähnefletschend an. Er schlich um sie herum und versperrte ihr den Zugang zur Höhle. Lisa wagte sich nicht, zu bewegen. Der Wolf würde sicherlich sofort zuschnappen. Sie musste stehen bleiben und sich ruhig verhalten.
   Aus der Ferne hörte Lisa das tiefe Knurren von Nasti. Auch die anderen Wölfe aus dem Rudel schlichen heran. Der ungebetene Wolf sah sich ängstlich nach einem Fluchtweg um. In diesem Moment stürzte sich die Wölfin auf ihn, und die anderen wollten es ihr gleichtun. Doch sie hielt sie mit einem einzigen Laut zurück, schnappte nach dem fremden Wolf, tötete ihn jedoch nicht. Sie schüttelte ihn kräftig und ließ ihn wieder los. Dieser nutzte die Freiheit und stob eiligst davon.
 »Ich danke dir«, sagte Lisa leise.
»Gehe in die Höhle zurück«, flüsterte die Wölfin. Es dauerte nicht lange und sie kam mit ihren Jungen herein.
   »Das hätte schlimm ausgehen können, wenn wir nicht rechtzeitig zurückgekommen wären«, meinte sie ernsthaft. »Es ist kein Neuschnee mehr gefallen. Es wird Zeit, ich werde dich morgen zurückbringen.«
   Lisa nickte traurig.

Es war schon hell, als sie erwachte. Nasti, die Wölfin, stand vor ihrem Lager. »Es ist soweit. Wir müssen los, denn es könnte wieder zu schneien anfangen«, sagte sie.
   Nur begleitet von der Wölfin, stapfte Lisa durch den tiefen Schnee, was recht beschwerlich war. Das Tier lief immer ein Stück voraus und wartete dann geduldig, bis Lisa näher kam.   Endlich traten sie aus dem Wald heraus. Die Gegend wirkte wie ausgestorben.
   Die Wölfin blieb stehen. »Du musst jetzt alleine weiter gehen«, sagte sie und blickte Lisa liebevoll an. »Wir werden immer Freunde bleiben«, waren ihre letzten Worte.
   Noch einmal berührte das Kind das weiche Fell der Wölfin, bevor das Tier im Wald verschwand. Lisa hätte weinen können, so elend war ihr zumute. Langsam ging sie weiter. Dann sackte sie zusammen. Aber auf wundersame Weise war es ihr überhaupt nicht kalt. Sie fühlte sich wohl und geborgen. Ein Motorengeräusch ließ sie aufhorchen. Es war Rudolf mit seinem Jeep, der schwerfällig die tief verschneite Zufahrtsstraße heraufkeuchte.
   Die Großmutter sprang aus dem Wagen und kam Lisa zu Hilfe. »Kind, was ist passiert? Du solltest doch das Haus nicht verlassen.«
   Rudolf trug Lisa hinein und legte sie ins Bett.
   Die Großmutter kochte heißen Tee. »Alles wird gut, mein Kind,«, flüsterte sie erleichtert.«
   Lisa drehte den Kopf und blickte aus dem Fenster. In der Ferne sah sie die Wölfin stehen. Lisa wusste, es war ein Abschied für immer. Dieses Erlebnis würde sie für alle Zeit in ihrem Herzen bewahren. Oder war alles nur ein Traum?

© Rita Hajak



Vita
Rita Hajak wurde 1950 in Frankfurt am Main geboren. Für die gelernte Anwalts- und Notariatsgehilfin war das Schreiben schon immer ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Bereits in der Schule schrieb sie mit Begeisterung Aufsätze. Später waren es Geschichten für ihre Kinder. Der Beruf trat in den Vordergrund und die Zeit zum Schreiben fehlte. Erst die Jahre, die sie mit ihrem Ehemann, auf der Insel Fehmarn verbrachte, schafften wieder Zeit und Raum zum Schreiben. Es entstanden Kurzgeschichten und Kurzromane verschiedenen Genres. Heute lebt die Autorin mit ihrem Ehemann im Taunus.