Mittwoch, 14. Dezember 2016

Der Krippenspiel-Engel von Rotraud Falke-Held

Foto von Rotraud Falke-Held

Die Klasse 3 der Laurentiusschule plante ein Krippenspiel. Frau Hurtig,
Geschichtslehrerin mit Theaterhobby, wollte mit den Kindern proben und bei der
Weihnachtsfeier das Krippenspiel aufführen. Alle Eltern, Großeltern und Geschwister
sollten eingeladen werden. Henrik war ganz aufgeregt. Er hoffte, er würde die Rolle
des Josef bekommen. Eine Hirtenrolle wäre auch okay, in jedem Fall aber wollte er
eine Sprechrolle.
Frau Hurtig vergab die Rollen.
„Karla, dich könnte ich mir gut als Maria vorstellen“, sagte sie gerade. Karlas Augen
strahlten. Ja, sie war wirklich eine gute Wahl, mit ihren langen braunen Haaren und
den großen Augen.
„Josef – mal sehen –„ überlegte Frau Hurtig, obwohl Henrik ganz sicher war, dass sie
die Rollen längst festgelegt hatte. Er hielt die Luft an.
„Das wäre eine Rolle für Tom.“
Puh – Mist. Das war also nichts.
Frau Hurtig machte weiter. Sie vergab mehrere Rollen für die Menschen, denen
Josef und Maria auf ihrer Reise begegneten und für die Wirtsleute in Betlehem.
Sie vergab die Rollen der Hirten an Jan, Lukas, Frederik und Kevin.
Auch einen König durfte Henrik nicht spielen. Da würde ja nichts mehr übrig bleiben
– zumindest nicht für Jungen. Mist.
„Jetzt haben wir noch eine wichtige Rolle zu vergeben“, sagte Frau Hurtig. „Die des
Engels, der den Hirten die Botschaft brachte. Und die spielt…“
Alle Mädchen hielten den Atem an.
„Henrik“, sagte Frau Hurtig.
Alle Köpfe drehten sich zu ihm. Henrik reagierte nicht.
„Henrik?“, fragte Frau Hurtig.
„Ja?“
„Hast du zugehört?“ Henrik sah sie fragend an.
„Du spielst den Verkündungsengel.“
Henrik fiel die Kinnlade herunter.
„Oh nein, nein“, wehrte er ab. „Das ist eher etwas für ein Mädchen.“
„Oh, da irrst du dich aber. Überleg dir mal die Namen der verschiedenen Engel.
Gabriel, Rafael, Michael… Alles Männer. Und du hast eine gute Stimme zum
Vortragen. Einige Mädchen werden den Engelchor spielen.“
Henrik war nicht überzeugt. Und da war er nicht der einzige.
„Engelchen!“, riefen Frederik und Kevin auf dem Schulhof hinter ihm her. Henrik zog
eine Grimasse. Die beiden lachten.
„Flieg schön“, rief Kevin und flatterte mit seinen Armen.
„Idiot“, schimpfte Henrik leise vor sich hin.
„Mach dir nichts draus“, sagte eine Mädchenstimme neben ihm. Leonie – sie spielte
eine Frau, die Maria und Josef auf der Reise nach Betlehem begegnete. „Du wirst
bestimmt ein ganz toller Engel.“ War das etwa nett gemeint? Plötzlich lachten und
kreischten mehrere Mädchen hinter ihr.
Henrik streckte ihnen die Zunge raus.
Was hatte Frau Hurtig ihm da nur angetan.
Aber er lernte seine Rolle. Er würde ihnen zeigen, was für ein toller Engel er war.
Was hatte Frau Hurtig gesagt? Die Engel waren männlich? Nun gut, er würde der
männlichste Engel aller Zeiten sein. Dieses blöde Nachthemd, das Frau Hurtig sich
vorstellte, würde es jedenfalls nicht tragen.
Er verstellte seine Stimme, damit sie tiefer klang.
„Höret – ich verkünde euch große Freude“, brummte er.
„Nein, nein, nein“, rief Frau Hurtig. „Du spielst keinen Bären.“
Die anderen lachten und tuschelten.
„Sprich mit deiner normalen Stimme, Henrik.“
Henrik schmollte.
„Denk dran – sprich mit deiner engelsgleichen glockenreinen Stimme. Nicht mit
deinem Bärenbrummen“, spottete Frederik nach der Probe.
Oh, wie Henrik diese Rolle hasste. Warum konnte er kein Hirte oder ein König sein?
Seine Mutter verstand sein Problem auch nicht.
„Klar, es ist nicht nett, wenn die Mitschüler spotten. Spiel einfach so gut du nur
kannst, dann werden die Lästermäuler schon verstummen.“
So ein Blödsinn, dachte Henrik.
Bei der nächsten Probe stellte er sich breitbeinig auf die Bühne und hatte die Ärmel
seines Sweatshirts mit Zewa ausgestopft, damit seine Schultern breiter wirkten und
seine Muckis gut zur Geltung kamen. So verkündete er laut und deutlich und
glockenrein die frohe Botschaft.
„Nein, nein, nein“, rief Frau Hurtig. „So geht das nicht. Stell dich bitte ordentlich hin.
Füße zusammen, dafür die Arme auseinander. Du verkündest immerhin die Geburt
Jesu.“
Henrik seufzte. Wie sollte er denn ein richtig männlicher Engel sein, wenn sie ihm
alles verbot.
Am Ende der Probe nahm sie ihn beiseite.
„Henrik“, sagte sie, „Ich bin sicher, du kannst die Rolle spielen. Sie ist sehr wichtig.
Was ist nur mit dir los?“
„Sie haben gesagt, die Engel waren Männer.“
„Aber keine Machos. Stell dich gerade hin, die Arme weit auseinander, so wie wir es
besprochen haben. Rede mit deiner normalen Stimme. Laut und klar. Und nimm die
Polster aus dem Pulli.“
„Die anderen lachen mich aus.“
„Lass sie lachen und spiel den Engel so gut du kannst.“
Ha ha. Hatte die sich mit seiner Mutter verschworen?
„He Engelchen“, rief Frederik ihm nach, als er in den Pausenhof kam.
„Du willst doch wohl nicht männlicher sein als die Hirten? Das waren echt harte
Männer.“
Doch gerade, als Henrik sich auf Frederik stürzen wollte, kam sein Freund Lukas
dazu und hielt ihn zurück.
„Lass das sein. Am Ende kriegst du nur selbst wieder Ärger“, warnte Lukas.
„Außerdem ärgern Kevin und Frederik doch sowieso jeden. Mich auch. Dabei bin ich
ein Hirte wie sie.“
Da war was dran. Mit den beiden hatte Henrik eigentlich ständig Ärger.
Am Nachmittag, an dem die Vorstellung stattfinden sollte, hatte er sich mit seinem
Schicksal abgefunden. Er trug sein langes weißes Gewand – das Nachthemd – und
die Flügel auf dem Rücken, als er durch den schweren Vorhang spähte. Puh – die
Aula war voll bis auf den letzten Platz.
„Hey – unser Engelchen ist auch schon fertig“, spottete plötzlich Kevin hinter ihm.
Egal. Henrik wollte sich nicht mehr ärgern lassen.
Die Vorstellung wurde ein toller Erfolg.
Maria und Josef zogen gemeinsam von Nazareth nach Betlehem. Sie trafen auf der
langen Reise Menschen, die ihre Freunde wurden. Sie wurden von den Wirten
abgewiesen und das Jesuskind wurde im Stall geboren. Dann kam Henriks großer
Auftritt. Er stand auf einer Erhöhung und brachte den vier Hirten mitsamt den
Schafen die Botschaft von Jesu´ Geburt.
„Fürchtet euch nicht!“ rief er mit klarer Stimme und breitete seine Arme aus. „Denn
ich verkünde euch eine große Freude…“
Als er die frohe Botschaft verkündet hatte, tauchte hinter ihm ein Engelchor auf und
sang: „Ehre sei Gott in der Höhe ….“
Als er die Bühne verließ, war er sehr stolz. Was für ein tolles Gefühl!
Das Stück ging weiter. Die Hirten besuchten die Krippe und auch die Könige folgten
dem Stern bis zum Stall und brachten ihre Geschenke. Und es kamen noch mehr
Besucher. Männer, Frauen und Kinder.
Dann war das Stück zu Ende.
Die Darsteller durften einzeln die Bühne betreten und sich verbeugen. Als Henrik
immer noch in seinem weißen Gewand und den Flügeln die Bühne betrat, brach
donnernder Applaus los. Henrik strahlte.
„Siehst du“, sagte später Frau Hurtig. „Du hattest einen großen Auftritt. Ein toller
Erfolg.“
Ja. So fühlte er sich auch. Daran konnten auch Frederik, Kevin oder Leonie nichts
ändern, als sie an ihm vorbeischlenderten und „Engelchen“ riefen. Sollten sie doch.
Ein paar Tage später brachte ihm seine Mutter die Stadtzeitung.
„Es ist ein Artikel über euer Krippenspiel drin“, sagte sie. „Ich lese es dir vor:
… brachte die Klasse 3 der Laurentiusschule gekonnt ein Krippenspiel auf die
Bühne. Die kleinen Schauspieler gaben ihr bestes und überzeugten durch Kreativität
und Spielfreude. Besonders überzeugten Karla Blume in der Rolle der Maria und
Henrik Stein in der Rolle des Verkündungsengels durch ihre starke Identifikation mit
ihren Rollen.
„Ha!“ Henrik lachte. Er hatte zwar keine Ahnung, was Identi… Identi – ach egal, was
immer das hieß, aber es klang gut.
„Siehst du“, sagte seine Mutter. „Ich habe es doch gesagt.“
Die Lästermäuler in der Schule verstummten jedenfalls. Nur noch ein ganz leises,
verschüchtertes „Engelchen“ war am nächsten Tag zu hören – aus alter Gewohnheit.
Henrik war es egal.
© Rotraud Falke-Held

Rotraud Falke-Held wurde 1964 in Bad Driburg geboren.
Schon in der Grundschulzeit entdeckte sie die Freude am Schreiben.
Doch zunächst absolvierte sie eine solide kaufmännische Ausbildung und kann heute auf eine 20jährige Berufstätigkeit zurückblicken.
Nach der Geburt ihrer Kinder - in den Jahren 2000 und 2001 – gab sie ihre Berufstätigkeit auf. Sie begann, sich spannende Geschichten auszudenken – zunächst nur für ihre eigenen Kinder.
2009 erschien ihr erstes Kinderbuch „Der kleine Bär Tapp“ im Monolith Verlag.
Seither sind einige Kinder- und Jugendbücher von ihr erschienen, altersmäßig wachsen die Geschichten mit dem Alter ihrer eigenen Kinder.
Rotraud Falke-Held lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern und der Hundedame Cacy in Büren.
Neben dem Schreiben engagiert sie sich ehrenamtlich und bietet als Kursleiterin an einem Gymnasium in Büren und der Volkshochschule eine Schreibwerkstatt und Entspannungstraining an.