Samstag, 24. Dezember 2016

Sandbank von Monique Lhoir





Der eisige Wind blies vom Norden. Jan zog die Mütze tiefer in die Stirn und stülpte die Kapuze des Anoraks darüber. Seine Augen tränten. Er hatte Schwierigkeiten, den Weg zu erkennen. Ständig wischte er sich mit den Fäustlingen über die Augen. Die Ebbe setzte gerade ein. Obwohl die Uhr nicht einmal Mittag anzeigte, wollte der Tag nicht hell werden. Jan erschien es so, als ob der Abend bereits hereinbrach. Heiligabend.
Jan strebte die Sandbank vor dem Südstrand der Insel Föhr an. Hier kannte er sich gut aus. Jahrelang war er mit seinem Kutter durch das Fahrwasser der Nordsee geschippert, um Krabben zu fangen. Jetzt war Jan zu alt, sein Boot klapprig und nicht mehr zeitgemäß. Unrentabel.
Im Schlick wurden Jans Beine schwer. Ab und zu knickte er in den Prielen um, bis er endlich die Sandbank erreichte. Mit klammen Fingern faltete er den Klappstuhl auseinander, den er über eine Schulter trug, stellte ihn so auf, dass er einen sicheren Halt bekam. Anschließend holte er aus seinem Rucksack einen kleinen, künstlichen Weihnachtsbaum, platzierte ihn vor sich und betätigte den Knipsschalter. Er leuchtete in allen bunten Farben. Jan grinste, weil er fand, dass es ziemlich kitschig aussah. Er setzte sich umständlich in den Stuhl, zog einen Flachmann aus dem Rucksack und nahm einen ordentlichen Schluck. Das war gut, das wärmte.
Jan schaute über das Meer. Er liebte die Weite Nordfrieslands. Hier schien alles so, als ob man bis ans Ende der Welt sah. Nichts störte, kein Hochhaus, kein Baum - einfach nichts. Hier spürte man den Wind, roch das Salz der Nordsee. Hier bekam man einen klaren Kopf und konnte in Ruhe nachdenken.
Jan musste nachdenken. Er besaß keine Familie, hatte nie geheiratet, keine Kinder gehabt. Seine Kate war alt, sein Boot marode und er selbst müde.
In seiner Küche auf dem Tisch lag ein Antrag. Er war mit der Post vom Festland gekommen. Aufnahmeantrag für ein Seniorenwohnheim. Jan nannte es Altenheim, in dem man sein Gnadenbrot erhielt. Ausrangiert, unbrauchbar – eben marode, genauso wie sein Kutter.
Als er mit dem Heim telefonierte, empfand er diese Lösung vernünftig. Gestern traf das Papier bei ihm ein. Er las es oberflächlich und war gar nicht mehr davon überzeugt. Es zeigte unausweichlich schwarz auf weiß, dass er alt und überflüssig geworden war. Jetzt musste er darüber nachdenken, ob er seine Unterschrift darunter setzen sollte. Jan nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und starrte regungslos über die Nordsee.

„Mensch Jan, nu ward dat aber tied.“ Jan schrak hoch und blickte irritiert in das Licht einer Taschenlampe. Inzwischen war es stockfinster. Er musste wohl eingeschlafen sein. Weit und breit nichts als Wasser, das inzwischen seine Füße umspülte. Nur der kitschige Weihnachtsbaum stand etwas erhöht, sodass die Nässe den Batterieschacht nicht erreichen konnte.
„Komm ins Boot, wir müssen hier weg.“ Die Stimme gehörte Hauke. Der Junge hatte vor vielen, vielen Jahren bei ihm auf dem Kutter den Beruf des Fischers erlernt. Jetzt besaß er ein großes, modernes Schiff und verdiente damit gut. Mit einem Schlag war Jan hellwach. Die Flut stand hoch. Er hatte den Zeitpunkt des Rückwegs verschlafen. Jan wollte seinen Klappstuhl zusammenfalten.
„Lass den stehen.“ Hauke zog Jan hart am Ärmel und stieß ihn in das kleine Motorboot. Sofort startete er. Behutsam fuhr er von der Sandbank weg. Im selben Moment erloschen die Lampen des künstlichen Weihnachtsbaums.
„Noch mal Glück gehabt“, sagte Hauke und grinste. „Was hast du da draußen gemacht?“
„Musste nachdenken“, brummte Jan schuldbewusst. „Danke.“
„Dafür nicht. Ich wunderte mich vorhin, was das für eine merkwürdige Beleuchtung auf der Sandbank war. Kannst froh sein, dass ich neugierig wurde.“ Hauke lenkte das Boot vorsichtig an den kleinen Privatsteg, sprang hinaus und befestigte das Seil am Poller. Anschließend reichte er Jan die Hand. „Kannst bei uns essen“, sagte er. „Imke hat den Braten bestimmt schon auf dem Tisch.“
„Will nicht stören.“ Jan schlurfte müde den Steg entlang.
„Wo willst du dann hin?“
„Nach Hause.“
„Fährt kein Bus nach Niblum, ist Heiligabend“, meinte Hauke.
„Ich laufe.“
Hauke schüttelte den Kopf, rannte hinter Jan her, packte ihn am Ärmel und zwang ihn so zum Stehenbleiben. „Störrischer alter Esel“, meinte er. „Ich krieg die ganzen Feiertage Ärger mit Imke, wenn ich dich jetzt gehen lasse. Also rein mit dir in die warme Stube.“
Mit hängen Schultern blieb Jan stehen. „Meinst du wirklich?“, fragte Jan.
„Hätte ich dich sonst eingeladen?“ Hauke zog Jan den kleinen Weg zu seinem Haus hinauf. „Zieh die nassen Stiefel aus“, flüsterte er vor der Stubentür. „Imke hat geputzt.“
„Jan? Bist du da?“, rief Imke aus der Küche. „Wird langsam Zeit, sonst bekommt die Gans Beine.“
„Oh ha“, meinte Jan, „klingt nicht gerade freundlich.“ Unwillkürlich zog er den Kopf ein. „Ich bring einen Gast mit!“, rief er. Er öffnete die Tür zur guten Stube.
„Heute?“ Imke steckte den Kopf durch die Tür. „Oh Jan!“, rief sie nun freundlicher. „Das ist nett, uns gerade am Heiligabend zu besuchen. Nehmt Platz. Die Gans ist fertig.“
Umständlich setzte sich Jan hin. „Sind eure Kinder nicht da?“, fragte er, als Imke einen weiteren Teller und Besteck vor ihm hinstellte.
„Sören und seine Frau verbringen die Weihnachtstage bei den Schwiegereltern in München“, gab Imke bereitwillig Auskunft. „Und Antje ist in New York geblieben. Der Flug ist für eine Studentin einfach zu teuer.“
„Ja, so ist das“, murmelte Jan.
„Nun erzähl mal, was du in der Dunkelheit auf der Sandbank wolltest“, fragte Imke nach dem Essen und schüttete allen einen Köm ein.
Jan druckste herum, dann berichtete er über das Formular vom Seniorenwohnheim.
„Deshalb wolltest du dich ertränken?“ Imke füllte erneut die Gläser.
„Ertränken!“, sagte Jan empört. „Ich bin eingeschlafen“, fügte er kleinlaut hinzu.
„Was willst du überhaupt in einem Seniorenwohnheim auf dem Festland?“ Imke kicherte inzwischen beschwipst. „Alten Damen belustigen?“
„Imke!“ Hauke zog missbilligend die Augenbrauen zusammen.
„Tschuldigung.“ Sie sah beschämt auf den Tisch und schob nachdenklich ein paar Krümel zusammen. „Mir kommt eine Idee.“ Sie schaute von einem zum anderen. „Was hältst du davon, mit mir gemeinsam Touristenführungen zu machen?“ Dabei fixierte sie Jan.
„Welche Touristenführungen?“, wollten Hauke und Jan gleichzeitig wissen.
„Ach, habe ich dir nicht davon erzählt?“ Jetzt blickte Imke Hauke trotzig an. „Das kommt davon, weil du ständig auf deinem Kahn mit Krabben beschäftigt bist, statt dich um mich zu kümmern.“
„Was ist mit den Touristen?“, wollte Hauke noch einmal wissen.
„Nun“, begann Imke langsam, „da die Kinder aus dem Haus sind und ich ständig allein bin, habe ich mit dem Touristenbüro vereinbart, in der Saison Stadtführungen in Wyk und Niblum zu machen. Ich kenne mich hier gut aus, bin hier geboren, duze mich mit jedem Grashalm. Das bringt zwar nicht viel Geld, aber ich komme unter Leute und kann über meine geliebte Insel berichten.“
„Bringe ich nicht mehr genug Geld nach Hause?“, fragte Hauke argwöhnisch.
„Geld ist nicht alles“, erklärte Imke ernst. „Ich will noch etwas anderes tun, als das Haus zu bewirtschaften, Kuchen zu backen und auf dich zu warten. Ich brauche eine sinnvolle Beschäftigung. Ich möchte einfach nützlich sein.“
„Du bist nützlich.“ Hauke wollte mit der Faust auf den Tisch zu hauen.
„Lass“, mischte sich Jan ein. „Ich kann deine Frau verstehen.“ Er wandte sich an Imke. „Deshalb war ich auf der Sandbank. Ich musste nachdenken. Ich kam mir mit einem Mal sehr überflüssig vor.“
Imkes Augen wurden feucht. Verschämt wischte sie die Augenwinkel trocken.
„Ich wusste nicht, was du fühlst“, sagte Hauke leise und griff nach ihrer Hand. „Ich finde die Idee mit den Führungen großartig.“
„Und was soll ich dabei?“, fragte Jan.
„Du weißt über Föhr sehr viel“, erklärte Imke ernst. „Du kennst den Hafen, die Boote und den Fischfang. Du bist ein alter Insulaner. Wir könnten die Führungen gemeinsam machen. Du erzählst über die Menschen und das Leben hier, ich über Kirchen und Häuser. Wir beide wären ein unschlagbares Team.“
„Keine schlechte Idee“, meinte Jan nachdenklich. „Was mach ich mit Seniorenheim?“
„Vergessen“, erklärte Imke amüsiert. „Was willst du auf dem Festland? Alte Damen kannst du auch auf der Insel belustigen. Gleich nächste Woche sollten wir einen Plan entwerfen, was wir alles zeigen wollen…“
Hauke stand auf und ging ans Fenster. Von hier aus sah er normalerweise die Sandbank. Jetzt war es stockfinster. Im Hintergrund hörte er Imke und Jan eifrig diskutieren. Wie gut, dass der alte Jan diesen albernen Weihnachtsbaum mitgenommen hatte. Er prostete seinem Spiegelbild in der Scheibe zu: „Frohe Weihnachten. Da haben wir alle noch mal Glück gehabt.“

© Monique Lhoir


Monique Lhoir

Sie schreibt seit dem Jahr 2000 Kurzgeschichten und Romane und verfügt über diverse Veröffentlichungen. Ihre Liebe gilt Norddeutschland, hier insbesondere den nordfriesischen Inseln. Im Augenblick arbeitet sie am 6. und letzten Teil des historischen Romans „Arjan von Föra“.