Freitag, 22. Dezember 2017

Mein schönstes Weihnachtsfest von Celine Rosenkind



Foto Eva Joachimsen
In meinem kleinen Heimatdorf im Taunus hatte es wieder einmal geschneit.
Die Advents-und Weihnachtszeiten gehören zu den schlimmsten Erinnerungen meiner Kindheit.
Der Schnee war so hoch, dass ich darin zu versinken drohte und es war bitterkalt. Meine Füße waren in meinen viel zu kleinen Schuhen schon längst abgestorben, und während es langsam dunkel wurde, sah ich die Lichter hinter den Fensterscheiben angehen.
Ich aber hatte wieder einmal Angst nach Hause zu gehen. Dort wartete die Frau, die ich Mutter nennen musste, auf mich, in einer kalten und schmutzigen Wohnung. Ob sie wohl wieder betrunken war?
Als ich so traurig durch den Schnee stapfte, meine Freunde beneidete, die jetzt durch die geschmückten Fensterscheiben den Schneeflocken zusahen, gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Während ich den Geruch von frisch gebackenen Plätzchen regelrecht einsog, kam ich auch an dem Haus unseres alten Dorfpfarrers vorbei. Ja, hier war für mich die Welt in Ordnung. Elf Kinder hatte unsere Pfarrersfamilie und ich hörte von drinnen das Lachen und den Gesang von Weihnachtsliedern. Es war Nikolaustag und mein Stiefel war wieder einmal leer geblieben. "Ich wünschte, ich hätte dich nie geboren", hatte meine Mutter am Morgen grinsend zu mir gesagt. Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich ohne es zu bemerken bereits den Klingelknopf am Pfarrhaus gedrückt hatte.
Erschrocken sah ich auf, als die Tür aufging und ich in die gütigen Augen unseres Pfarrers blickte. "Komm herein, Silvia, wir haben auf dich gewartet", sagte er. Nur zögernd folgte ich seiner Aufforderung und trat in sein großes gemütliches Wohnzimmer. Da tummelten sich viele unserer Dorfkinder. Sie waren gerade damit beschäftigt, ihre Kostüme für das alljährliche Krippenspiel anzuprobieren.
"Schaut!", rief der Pfarrer den Kindern zu, "nun haben wir doch noch einen Erzengel Gabriel gefunden" und er schob mich dabei in den Raum.
Die Dorfkinder, die sonst nicht mit mir spielen durften, musterten mich kritisch.
Na ja, wie sah ich auch aus in meinen viel zu kurzen Hosen und meinem dünnen Anorak. Ich schämte mich.
Der Pfarrer holte ein weißes Gewand aus einem großen Karton, und ehe ich mich versah,
war aus mir ein Engel geworden. "Schön siehst du aus“, staunten die Kinder, nachdem ich meine großen Flügel auf dem Rücken hatte und eine kleine goldene Krone in meinem langen strubbeligen Haar. "Siehst du Silvia, dich hat uns der liebe Gott geschickt", brummte der Pfarrer. „Denn Weihnachten ohne einen Erzengel, das geht nicht!“
Ich sah mich im Spiegel an. Plötzlich war ich gar nicht mehr ängstlich, ich war wichtig geworden und ich wurde gebraucht. Das war ein so großes Glücksgefühl und ich vergaß alles, was mich zu Hause erwartete. Ich wollte nur noch eins, ein Engel sein.
Zu den Proben für unser Krippenspiel, musste ich mich unbemerkt aus dem Haus schleichen, immer in der Gewissheit, dass es bei meiner Rückkehr Schläge hageln würde. Doch das machte mir nichts mehr aus.
Der Heiligabend war gekommen und unser großer Auftritt nahte oder war es meiner?
Wie jedes Jahr war unsere Wohnung kalt und leer, meine Mutter war sehr betrunken und schien fest zu schlafen. Auch gab es wieder keinen Weihnachtsbaum. Ich nahm meine kleine Schwester bei der Hand und wir schlichen uns aus dem Haus. Als wir an der Kirche ankamen, tummelten sich die Dorfkinder, zu denen auch wir mittlerweile gehörten aufgeregt in unserem Übungsraum. Wir zogen unsere Kostüme an, obwohl das für mich längst kein Kostüm mehr war und drückten zusammen unsere Nasen an den Fensterscheiben platt. Verwundert und aufgeregt sahen wir wie die Besucher in die Kirche strömen. "Schau mal, da sind meine Mama und meine Oma", rief meine mittlerweile zur Freundin gewordene Karin mir zu.
Ich wusste, dass mich keiner bewundern würde und ich betete so innig wie nie zuvor: "Bitte Vater im Himmel, sei du wenigstens ein bisschen stolz auf mich!“
Die Glocken fingen an zu läuten, wir nahmen Aufstellung, der Pfarrer gab mir einen schweren silbernen Leuchter mit einer großen brennenden Kerze in die Hand, und so zogen wir in die Kirche, unter dem Gesang der Gemeinde, dem Weihnachtsbaum entgegen.

Unser Krippenspiel war wirklich ein gelungenes Werk und als ich zum Schluss oben auf der Kanzel stand, vergaß ich alles um mich herum. Ich sang voller Inbrunst „Ehre sei Gott in der Höhe“, sah dabei auf die Menschen unter mir, die sich verstohlen über die Augen wischten und ich war so selig ...
Ja, so war das, damals Weihnachten 1955, ich war gerade 5 Jahre alt und ich werde diesen Heiligen Abend niemals vergessen. Er war für mich der Auftakt einer langen Engelskarriere. Ich durfte den Erzengel noch einige Weihnachtsabende in unserer Gemeinde spielen und habe mir damals etwas Wichtiges vorgenommen.
Ich wollte nicht nur zu Weihnachten ein Engel zu sein nein, ich wollte in meinem Leben immer ein bisschen Engel sein und bleiben. Das Weihnachtsfest nimmt in meinem Leben einen sehr hohen Stellenwert ein. Ich habe Vieles lernen und erkennen dürfen in jenen Jahren.
Was wäre die Welt ohne Engel, ohne die Liebe zu unseren Mitmenschen, und ohne Glauben an das Gute?
Mittlerweile bin ich Mutter und Großmama und immer, wenn ich diese wahre Geschichte erzähle, blicke ich in strahlende Kinderaugen oder halte dabei die Hände jener Menschen, die traurig und hoffnungslos sind.
Ich habe mir diese Erinnerung bis heute bewahrt. Sie ist immer gegenwärtig. Ich glaube, wenn wir alle versuchen würden nur jeden Tag eine gute Tat zu tun, wäre das Leben viel schöner. Irgendwie werde ich immer ein wenig der Erzengel Gabriel sein, und freue mich über jede, Aufgabe die ich in diesem Leben erfüllen darf. Ich schließe meine Geschichte mit den Worten: "Gott ist Liebe, und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm.

(Aus meiner Biografie "Annies’ Tochter" welche ich dabei bin zu schreiben und zu veröffentlichen, um vielen betroffenen Menschen Mut zu machen)

© Celine Rosenkind

Celine Rosenkind mit dem bürgerlichen Namen Silvia Stoeßer, geb. 10. 6. 1950 in Anspach im Taunus lebt und schreibt im Bergischen Land erlebte Gedichte, Geschichten und Märchen.