Samstag, 16. Dezember 2017

"Warum ich kein Musikant geworden bin" von Lutz Schafstädt





Diese Geschichte spielt in einer Zeit, als Kinder noch Klaus, Bernd oder Jörg hießen. Meine Eltern hatten sich entschlossen, mich Uwe zu nennen. Uwe ist mit seinen drei Buchstaben ein sehr sparsamer Name und ich fand ihn nie besonders schön. Doch in der Schule erfuhr ich von einer beachtlichen Besonderheit: Trotz seiner Kürze besteht er aus zwei Teilen. Beim Silbenklatschen war das unüberhörbar. Wir übten das Silbenklatschen, um dem verborgenen Rhythmus auf die Spur zu kommen, der in allen Wörtern wohnt. Dabei entsteht ein Takt, der fast wie Musik ist. Bernd, mein Banknachbar aus fünf Buchstaben, konnte sich nur wundern, dass Uwe zwei Klatscher ergab. Beim Schreiben hätte ich meinen Namen sogar trennen dürfen, doch in diese Verlegenheit kam ich eigentlich nie. So viel Platz war in der Zeile immer noch. Da gab es andere Wörter für die es nützlich war, das Silbenklatschen drauf zu haben. Auch Mädchennamen gehörten dazu, die kamen oft mit mehr als zwei Takten daher. Das störte mich nicht, außer bei meiner kleinen Schwester Regina. Zum Glück nannten wir sie immer nur Gina, damit war die Gerechtigkeit wiederhergestellt. 

An einem Tag im Advent wurde Gina wetterfest eingemummelt, ich holte derweil den Schlitten aus dem Schuppen. In der Nacht hatte es geschneit und Papa fand es höchste Zeit, einen Weihnachtsbaum zu besorgen. Ich kann mich nicht erinnern, woher die anderen Leute im Dorf damals ihre Bäume bekamen, Verkaufsstände wie heute gab es jedenfalls noch nicht. Vielleicht hatte der eine oder andere eine Tanne im Garten, bei uns wuchsen dort nur Obstbäume. Wir mussten in den Wald und ich hatte meine Zweifel, ob Papa den Förster vorher gefragt hatte. Wie auch immer, ein Abenteuer würde es allemal, denn noch nie zuvor waren wir dabei mitgenommen worden. Gina kam auf den Schlitten, Papa zog ihn und ich stapfte nebenher und durfte die kleine Säge tragen. Erst kratzten die Kufen noch auf dem Straßenpflaster, auf den Feldwegen wurde es besser und im Wald angekommen war die Schneedecke noch wie neu. Gina musste jetzt vom Schlitten herunter, damit sie nicht zu frieren begann. Folglich ging es langsamer voran und außerdem sollten wir nun besonders vorsichtig laufen, denn überall konnten sich Äste oder Löcher verbergen. Hin und wieder waren Spuren von Tieren zu sehen. Die von Hasen und Rehen schaute ich mir mit Interesse an. Doch sollte es hier auch Wildschweine geben! Augenblicklich verwandelte ich mich in einen Spurenleser und hielt besorgt nach entsprechenden Abdrücken Ausschau. 

Wildschweine hätten Angst vor Menschen, meinte Papa, und schlug vor, ein Lied zu singen. Dann wüssten die Tiere, dass wir da sind und blieben in ihrem Versteck. Ich brachte als Alternative ein, lieber mit einem Stock gegen die Bäume zu schlagen. Das wäre ein besserer Krach als unsere Stimmen, denn schließlich könnte der Förster in der Nähe sein. Papa lachte, ich fand das leichtsinnig und Gina fing tatsächlich an zu singen. Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit - ihr aktuelles Lieblingslied aus dem Kindergarten. Papa machte mit, doch nicht als Sänger, sondern als Trompeter. So machte er es immer und er konnte es sogar ziemlich gut. Mit geschürzten Lippen ahmte er eine Trompete nach, erfand dabei meist eine muntere zweite Stimme, und brachte so erst den richtigen Schwung in die Melodie. Er nannte es Hausmusik und oft hatte er schon gesagt, eines Tages würde er sich eine Trompete zulegen, uns allen ein Instrument beibringen und dann kämen wir als Familienorchester bei den lustigen Musikanten groß raus. Im Fernsehen hatte ich solch musizierende Familien schon gesehen und der Gedanke, auf diese Art berühmt und bewundert zu werden, gefiel mir. Auch jetzt klang es gut, aber erst mit meiner Stimme wurde die Sache rund. Dass ich besser singen konnte als Gina lag auf der Hand. Also trällerten wir das Schneeflöckchen mit großem Spaß mehrmals zu dritt und ich stellte mir dabei die andächtig lauschenden Wildschweine hinter den Büschen vor. Dann hatten wir unser Ziel, eine Schonung mit jungen Kiefern erreicht. 

Während Papa die Bäume prüfte, saßen wir auf dem Schlitten und sahen zu. Kiefern sind mit ihren langen Nadeln und spärlichen Ästen keine idealen Weihnachtsbäume, aber andere Nadelbäume hatte unser Wald nicht zu bieten. Deshalb suchte er lange, schüttelte immer wieder Schnee von den Zweigen, dann sägte er zwei Exemplare ab. Warum zwei? Das fragte ich auch. Der eine Baum hatte einen geraden Stamm, der andere dichte Zweige. Zusammen ergäben sie einen ansehnlichen Weihnachtsbaum, wir würden schon sehen. Mit einem Seil zu einem Bündel verschnürt wurden die Bäume an den Schlitten gehängt, meine Schwester und ich teilten uns die Sitzfläche, jedenfalls bis zum Waldrand. Bis dort wurden wir gezogen, mit dem Baumpaket im Schlepp. "Schaut mal, wie wir die Kufenspuren verwischen", sagte Papa fröhlich. "Als wären wir überhaupt nicht da gewesen." Dann mussten wir laufen und die Bäume durften fahren. War die ganze Sache vielleicht doch ein Raubzug? Ich habe es nie erfahren. 

Nachmittags verschwand Papa mit dem Bäumen im Schuppen. Der mit dem geraden Stamm bekam Bohrlöcher und die abgeschnittenen Äste des anderen als neue Arme angesteckt. So viel hatte ich verstanden, doch nicht gesehen, denn ab diesem Moment hatte die Verwandlung als geheimnisvoll zu gelten und das Ergebnis würde erst am Weihnachtsabend in vollem Schmuck präsentiert. Also blieben wir in der Stube, die von einem großen Kachelofen gewärmt wurde. Und groß heißt wirklich riesig. Er reichte bis zur Decke. Mama, meine Schwester und ich konnten uns gleichzeitig mit dem Rücken daran stellen, ohne zu drängeln. Wenn Papa ihm mit Kohle ordentlich eingeheizt hatte, wurde er so heiß, dass man die Kacheln nicht mit der Hand anfassen konnte. Diese Hitze ließ sich zum Beispiel hervorragend nutzen, um Bratäpfel zu machen. Dafür gab es im Ofen eine Röhre mit zwei kleinen Eisentüren. An den Türchen konnte man gut Handschuhe trocknen, doch im Inneren der Röhre war es glühend heiß. Zwei Äpfel auf einem Teller hineingestellt, und im Handumdrehen reifen die Bratäpfel heran, zischen Saft aus ihren Poren und beginnen süß zu duften. Gut, ein wenig länger dauerte es schon, und wir nutzten die Wartezeit für unsere Wunschzettel. 

Mama kam herein. "Na, malt ihr schön? Vertragt ihr euch?" Beide Fragen bedurften keiner Antwort, wir waren hoch konzentriert. Gina malte ihre Puppe aus. Bei den Umrissen hatte ich ihr geholfen, nun schaffte sie es nicht, mit dem Farbstift innerhalb der Linien zu bleiben. Sie war eben noch klein.  
Mama schaute mir über die Schulter: "Ein Polizeiauto?" 
Ich war noch nicht sehr weit mit dem Bild, staunte aber trotzdem über die Frage: "Sieht man das nicht?" 
"Du hast doch schon so viele Autos."
"Das ist eines mit Fernsteuerung, mit Licht und Sirene."
"Ja, und nach zwei Tagen kaputt." 
Ich legte den Stift beiseite und sah sie verwundert an. 
"Was soll ich mir denn sonst wünschen?" Ich überlegte. "Ein Fahrrad?"
"Dein Fahrrad ist doch noch prima in Ordnung. Wachse du erst mal noch ein wenig, dann gibt es ein größeres." 
Sie hatte wirklich ein Talent, mir das Wunschzettel malen zu verleiden. Neue Blätter waren noch da, doch womit füllen? Das Polizeiauto blieb die beste Idee, und es könnte wertvolle Dienste leisten, wenn der Kran das nächste Mal von der Teppichkante in die Baugrube stürzte und die Feuerwehr allein nicht mehr klarkam. Ein Krankenwagen würde auch noch nützlich sein, aber gab es den mit Fernsteuerung? 
"Wie wäre es denn mit einem Wunsch, mit dem man Musik machen kann?", sagte Mama.
Das war ein ganz und gar neuer Gedanke. Aber nicht schlecht, der würde selbst den Weihnachtsmann überraschen.   
"Ja, ein Klavier!", rief ich. In der Schule stand eines und ich hatte einmal darauf geklimpert, als die Klappe über den Tasten nicht verschlossen war. Eigentlich durfte man das nicht, aber es war aufregend laut und hatte Spaß gemacht. 
"Das ist zu groß. Wo sollen wir das hinstellen?", lachte Mama. "Vielleicht ein Instrument, das auch Kinder mit sich herumtragen können?" 
Sie schien die Sache wirklich ernst zu meinen. 
"Aber Tasten müsste es schon haben." So leicht wollte ich mich nicht von der Vorstellung trennen, auf einem Klavierhocker zu sitzen. 
"Was hältst du von einer Ziehharmonika? Die hat Tasten und klingt sehr schön." 
Ich wusste, was eine Ziehharmonika war. Mein Onkel hatte eine, für Erwachsene hießen die Dinger wohl Akkordeon, und es war fantastisch, was er damit machen konnte. Einmal hatte er mit dem riesigen Kasten auf den Knien in der Küche gesessen und uns etwas vorgespielt. Die Hände zogen und drückten den Faltenbalg, die Finger tanzten eilig über Tasten und Knöpfe. Wir kannten die meisten Lieder und weil ihm immer noch eines einfiel, durften wir viel länger aufbleiben als üblich. Eine Ziehharmonika macht eine besondere Musik, als wären es mehrere Instrumente, und schon bei seinem Besuch hatte ich mir gewünscht, den Kasten einmal selbst halten und ausprobieren zu dürfen. Warum war ich nicht selbst darauf gekommen? 
"Ja, die wünsche ich mir. Und Papa muss eine Trompete bekommen." 
Ich sah uns schon gemeinsam musizieren. Ich auf dem Stuhl, die Riemen über den Schultern, eine Hand durch die Schlaufe gesteckt, die Finger griffbereit. Papa steht neben mir, schwenkt beim Spiel seine goldene Trompete, Mama und Gina, im Takt von einem Bein auf das andere schunkelnd, singen kräftig gegen unsere Klänge an. Das war sie doch, die Hausmusik. Da würde Papa sich freuen - und am Weihnachtsabend ordentlich überrascht sein, wenn der Weihnachtsmann bringt, was ich mir gewünscht habe. Vorfreude kitzelte mich im Bauch. Also ans Werk und losgemalt. 
"Ich will auch eine Ziehharmonika", meldete sich Gina. 
Dafür war sie noch zu klein, aber das zu sagen würde sie nur ärgern. 
"Die ist viel zu schwer zu lernen. Wünsch dir eine Flöte, die malt sich auch viel besser." 
Mit flinken Strichen zeichnete ich ihr eine vor, da müsste Mama im Familienorchester eben alleine singen. 
Ruckzuck war Gina mit ihrem Wunschzettel fertig. Viel zu malen gab es da auch nicht. Während ich noch lange zu tun haben würde, holte sie sich einen Löffel aus der Küche und ließ sich schon einmal einen runzelig braunen Bratapfel aus der Ofenröhre geben. Er und sein Teller waren noch sehr heiß, sie sollte vorsichtig sein und pusten. Pusten, fand ich, war eine gute Übung, wenn sie einmal Flöte spielen wollte. 

Danach begann das große Warten. Es dauerte Ewigkeiten von einer Adventskerze zur nächsten. Immer waren noch viele Tage im Weg und sie sträubten sich zu vergehen. Aber endlich konnten auch sie nicht verhindern, dass es Weihnachtsabend wurde. Alles war, wie es sein musste. Während meine Schwester und ich in der Badewanne waren, hatte der Baum seinen Platz vor dem Fenster bezogen, sich prächtig herausgeputzt und leuchtete nun festlich. Darunter standen die bunten Teller bereit. Für später. Nur aus einem Schritt Entfernung durften wir schon einmal in Augenschein nehmen, welches leckere Angebot sie für uns bereithielten. Auf dem Tisch drehte sich die Pyramide - Finger weg von den Kerzen! Ordentlich hinsetzen, im Fernsehen einen Trickfilm schauen und lauschen, ob da Geräusche an der Tür sind. 
Dann war es so weit. Es polterte im Flur, die Tür ging auf. "Draußen vom Walde komme ich her ...", mit Stiefeln, dicker Jacke und großem Sack. Hinter der bärtigen Maske klang seine Stimme dumpf und er blickte uns aus dunklen Augenschlitzen an. Gina bekam es mit der Angst, doch ihr "Kling Glöckchen, klingelingeling" sang sie ohne Stocken. Dann musste ich vor dem Baum Aufstellung nehmen und war so aufgeregt, dass ich mein Gedicht vergessen hatte. Alles weg. Dabei hatte ich es doch extra gelernt. Mama flüsterte etwas, doch ich konnte sie nicht verstehen. In meiner Not griff ich zum nächst besten Vers, der mir einfiel. "Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an ..." Das war zwar nicht sehr einfallsreich und längst nicht so feierlich wie geplant, doch es war kurz, knackig und erfüllte seinen Zweck. Aber genug der Nebensächlichkeiten, der Sack konnte geöffnet werden und allein darauf kam es an.

Etwas zum Spielen, etwas zum Anziehen, ein paar Kleinigkeiten und dann hatte sich mein Wunsch in ein Geschenk verwandelt. Eine Ziehharmonika für Kinder. Ehrlich gesagt, war ich anfänglich etwas enttäuscht. Sie war ziemlich klein und erinnerte mich auf den Blick an etwas, mit dem Clowns im Zirkus ihre Faxen machen. Doch sie hatte genügend Tasten auf der einen, Knöpfe auf der anderen Seite und als ich das kleine Riemchen über dem Faltenbalg löste, machte sie schon das erste Geräusch. Zweifellos, man konnte mit dem Ding Musik machen, und gleich nachdem ich alle anderen Päckchen ausgewickelt und freudig zur Kenntnis genommen hatte, machte ich mich ans Üben. 
Gina bekam statt einer Flöte eine Triola. Das ist eine entfernte Verwandte der Flöte, mit breitem Plastikkörper, bunten Tasten statt Löchern und einem flachen Mundstück, in das Geblasen werden musste. Auch Gina begann sofort, der Triola Töne zu entlocken. 
Für Papa gab es keine Trompete, er musste sich weiter mit dem Mund begnügen. Vielleicht war das auch besser so. Was wäre das für ein Krawall geworden, wenn wir gleichzeitig zu dritt in der Stube auf unseren neuen Instrumenten gespielt hätten. Von stiller Nacht konnte an diesem Weihnachtsabend jedenfalls keine Rede sein. 
Nach einer Weile hielt Mama es für besser, wenn wir in verschiedenen Zimmern übten. Gina durfte am Baum bleiben, ich zog mich in die Küche zurück. Dort saß ich wie mein Onkel dereinst mit seinem Akkordeon, nur hörte es sich bei mir bei weitem nicht so an. Eine Ziehharmonika war ein verzwickt kompliziertes Instrument und mir schwante schnell, dass es lange dauern würde, bis meine Zuhörer das Lied erkannten, das ich zu spielen vorgab. Ich mühte mich redlich, probierte alle Tasten aus und erlebte so manche Klangüberraschung. Tasten und Knöpfe drücken, gleichzeitig den Blasebalg abwechselnd pressen und ziehen - es gelang mir nicht, auch nur einen einzigen Ton zweimal zu wiederholen. Meinem frisch entflammten Ehrgeiz, ein lustiger Musikant zu werden, tat das jedoch keinen Abbruch. Nur die Arme und Finger wurden mir allmählich schlapp. Es war Zeit für eine Pause. 
Ich ging in die Stube zurück, das Weihnachtsglitzern war noch da. Gina lag bäuchlings auf dem Teppich und blätterte in ihrem neuen Bilderbuch. Die Triola lag neben ihr. Möglicherweise war es leichter, diesem kleinen Spielzeug eine Melodie zu entlocken? Schließlich gehörte ein handliches Liederheft dazu, in dem mit den Farben der Tasten genau aufgeschrieben war, in welcher Reihenfolge man sie drücken sollte. So viel Komfort gab es bei mir nicht. Gina hatte nichts dagegen, doch hatte sie in der kurzen Zeit bereits so viel Spucke in das Mundstück gesabbert, dass ich erst einmal einen Lappen holen musste. Auch Schokolade von ihrem Pfefferkuchenmund klebte da und es gab erste Riefen im Plastik, die sie mit ihren Zähnen geknabbert hatte. Keine appetitliche Angelegenheit, aber wenn ich nur die gespitzten Lippen an die Öffnung legte, würde es schon gehen. Ich trötete ein wenig herum und fand schon nach wenigen Versuchen, dass, wer wirklich wollte, genau erkennen konnte, wie alle meine Entchen ihr Köpfchen unters Wasser steckten. 
Dann forderte Gina ihr Recht. Sie meinte, nun auch meine Ziehharmonika ausprobieren zu dürfen. Das konnte ich ihr jedoch nicht erlauben. So ein empfindliches Instrument würde in tapsigen Händen leicht Schaden nehmen, nicht auszudenken es fiele herunter. Trotzig forderte sie ihre Triola zurück. Ich holte mir meine Ziehharmonika und behielt sie stets griffbereit in meiner Nähe, bis unsere Eltern bestimmten, dass wir nun müde seien.

Als alle mit Betten aufschütteln, Schlafanzug holen, Zähne putzen oder sonst was beschäftigt waren, schlich ich mich noch einmal in die Wohnstube. Meine Ziehharmonika konnte nicht einfach unter dem Weihnachtsbaum liegen bleiben. Sie musste sicher verwahrt werden, wo Gina sie nicht einfach heimlich nehmen und kaputt machen konnte. In den Schrank? Nein, dort konnte sie leicht gefunden werden. Mein Blick fiel auf die Röhre im Kachelofen. Sie war hoch genug, ohne Stuhl konnte Gina nicht hineinsehen und außerdem käme sie nie im Leben auf die Idee, dort nachzuschauen. Der Ofen war schon fast kalt, ich legte meine Hand auf das Blech in der Röhre, auch hier drohte keine Gefahr mehr. Ich schob meine Ziehharmonika hinein, klappte die Türchen zu und ging ins Bett. 

Der erste Weihnachtstag begann mit einem Familienfrühstück, bei dem wir Lebkuchen in warme Milch tunken durften. Eigentlich wollten wir danach mit unseren Geschenken spielen, doch zuerst ging es an die frische Luft. Wir liefen ein wenig auf dem Hof herum, füllten für Papa Holz in die Eimer und schütteten Körner ins Vogelhäuschen. Dann begann es zu nieseln und wir durften wieder rein. Noch während wir die Jacken auszogen kam Mama aus der Stube und sagte: "Irgendwas riecht komisch." 
Papa schob uns zur Seite. 
"Ja, es stinkt verschmort. Irgendwie nach Kabelbrand."
Ich versteinerte. "Meine Ziehharmonika!" 
Fragende Blicke aus allen Richtungen. 
"In der Röhre?", flüsterte ich. 
Papa stürmte zum Ofen, riss die Türchen auf, griff hinein und zuckte sofort wieder zurück.
"Zu heiß! Schnell, ich brauche Topflappen." 
Mama rannte in die Küche, ich tapste zögerlich in die Stube. 
Mit zwei Topflappen zog Papa die Ziehharmonika heraus, vielmehr das, was von ihr übrig war. Das Plastikgehäuse war geschmolzen und zog lange Fäden, die zu spitzen Stacheln erstarrten. Die Falten in der Mitte waren schwarz verkohlt, die Tasten miteinander verklebt. Mit einem Schwall breitete sich Brandgeruch im Zimmer aus. Papa legte das unförmige Etwas auf das Ofenblech und brachte es hinaus. 
Mama, Gina und ich standen wortlos vor dem Ofen. 
"Wie kommt die da hinein?", fragte Mama. 
"Weggelegt", sagte ich nach einer langen Denkpause.
"Warum? Damit sie es warm hat?" 
"Ich wollte ...", mir kamen die Tränen. Was ich noch sagen könnte, würde Mama nicht verstehen. Gina sollte sie nicht haben, außerdem war der Ofen gestern kalt und ich wollte doch gleich heute Morgen weiterspielen. Am allerschlimmsten aber war, dass ich nun keine Ziehharmonika mehr hatte. 
"Das war es dann wohl", sagte Mama. Sie schaute mich noch einmal kopfschüttelnd an und ließ mich stehen. Die Fenster mussten aufgerissen werden.  
Papa kam zurück, sagte Dinge wie "ich hätte dich für klüger gehalten" und ich heulte weiter. Danach sprach niemand mehr das Thema an. Schließlich war Weihnachten und für Fragen später noch Zeit. 

Da saß ich nun, allein mit meinem Kummer. Meine noch nicht begonnene Musikantenlaufbahn lag in Scherben. Weihnachten roch plötzlich seltsam, die Lichter am Baum waren noch aus, draußen regnete es. Nicht einmal weglaufen konnte man bei dem Wetter. 
Gina setzte sich mir gegenüber auf den Sessel und begann mit ihrer Triola zu spielen. Das macht sie doch extra, dachte ich. Will mir triumphierend zeigen, dass ihr Geschenk noch heil ist. Genau genommen war sie doch an allem schuld! Ihretwegen musste ich die Ziehharmonika verstecken. Ohne sie hätte sie gar nicht erst beschützt werden müssen. Erst hatte sie mir alles kaputt und mich jetzt furchtbar wütend gemacht. Ich nahm das kleine Liederheft ihrer Triola, holte mir einen Stift und schrieb auf die erste Seite: "Gina ist doof."  

Weil Gina noch nicht lesen konnte, erfuhr sie erst viel später, was dort stand. Da hatte sie aber das Interesse an der Triola längst verloren und, nur für alle Fälle, den dummen Satz durchgestrichen. Das Heftchen lag lange in einem Schubfach verborgen, bis es mir wieder in die Hände fiel und mich daran erinnerte, warum aus mir kein Musikant geworden ist. Nicht so schlimm, hatte ich doch am gleichen Tag offensichtlich mit dem Schreiben begonnen. Und nun haben sich drei zornig hingekritzelte Worte sogar in eine kleine Weihnachtsgeschichte verwandelt.   

© Lutz Schafstädt ,24.11.2017






Eine weitere Weihnachtsgeschichte und 17 weitere Erzählungen sind in
seinem Buch "Nadelprobe" enthalten. Seine Bücher sind auf der Autorenseite zu finden.


Lutz Schafstädt ist Jahrgang 1960, lebt in Potsdam und ist Autor. Mehr
Informationen über ihn gibt es auf seiner Website
http://www.lutz-schafstaedt.de